
Subhas Chandra Bose (1897–1945) zählt zu den bedeutenden, aber auch kontrovers diskutierten Persönlichkeiten der indischen Unabhängigkeitsbewegung. In Indien wird er häufig mit dem Ehrentitel Netaji („verehrter Führer“) bezeichnet. Seine Tochter, die Augsburger Professorin Anita Pfaff, setzt sich bis heute für ein differenziertes Verständnis seines Lebens und Wirkens ein.
Bose wurde am 23. Januar 1897 in Cuttack (heute Odisha) als neuntes von vierzehn Kindern geboren. Nach einem Studium der Philosophie am Presidency College in Kalkutta setzte er seine Ausbildung in Cambridge fort. Früh entwickelte er patriotische Überzeugungen und engagierte sich nach seiner Rückkehr in die indische Unabhängigkeitsbewegung. Innerhalb des Indischen Nationalkongresses stieg er rasch auf und wurde 1938 zum Präsidenten gewählt. Sein politisches Vorbild war der bengalische Freiheitskämpfer Chittaranjan Das.
Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 lehnte Bose die Unterstützung der Briten durch indische Soldaten entschieden ab. Nach mehreren Verhaftungen gelang ihm Anfang 1941 die Flucht aus dem Hausarrest. Über Kabul und Moskau gelangte er mit einem falschen Pass nach Deutschland, wo er versuchte, internationale Unterstützung für Indiens Unabhängigkeit zu gewinnen. In Berlin gründete er das „Free India Center“ und den Radiosender Azad Hind Radio, über den er sich an Inder weltweit wandte.
In Deutschland bildete sich unter seiner Führung die „Indische Legion“, bestehend aus etwa 3.000 ehemaligen indischen Kriegsgefangenen der britischen Armee. Sie wurde von der Wehrmacht ausgebildet, kam jedoch nie in Indien selbst zum Einsatz. Boses Bemühungen um substantielle deutsche Unterstützung blieben begrenzt, weshalb er 1943 nach Japan reiste. Dort erhielt er militärische und logistische Hilfe von der japanischen Regierung.
Mit japanischer Unterstützung gründete Bose die Azad Hind Government (Provisorische Regierung des Freien Indien) und stellte die Indian National Army (INA) auf, die überwiegend aus indischen Kriegsgefangenen bestand. Teile dieser Truppen kämpften an der Seite der Japaner in Südostasien und erreichten zeitweise die indische Grenze. Ihr Ziel war, Indien von Osten her von der britischen Kolonialherrschaft zu befreien. Der militärische Vorstoß scheiterte jedoch, und nach der Niederlage Japans zerfiel die INA.
Bose kam im August 1945 bei einem Flugzeugabsturz über Taiwan ums Leben. Sein Tod markierte das Ende seiner unmittelbaren politischen Tätigkeit, doch seine Rolle blieb in der Nachgeschichte umstritten. Während viele Inder ihn als Symbol des Widerstands und des kompromisslosen Kampfes gegen den Kolonialismus verehren, sehen Kritiker in seiner Kooperation mit Deutschland und Japan ein moralisch problematisches Kapitel.
Boses Wirken hatte dennoch nachhaltige Wirkung: Die Prozesse gegen Angehörige der INA führten in Indien zu großer öffentlicher Solidarität mit den Angeklagten und verstärkten die Forderung nach der Unabhängigkeit, die schließlich 1947 erreicht wurde. Subhas Chandra Bose bleibt bis heute eine komplexe historische Figur – zugleich Freiheitskämpfer, Nationalist und Symbol einer umstrittenen Strategie im antikolonialen Widerstand.
Anm. d. Red.: Dieser Text erschien im März 2004 und wurde danach inhaltlich überarbeitet.
Foto: (c) Tony Mitra
