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Leiser Abschied: „Shakha Proshakha“

Shakha Proshakha (1990) by Satyajit Ray

In „Shakha Proshakha“ (dt. etwa: Zweige und Nebenäste), einem seiner letzten Filme, inszeniert Satyajit Ray mit beeindruckender Klarheit, psychologischer Tiefe und sprachlicher Brillianz ein Familiendrama, das sich zu einer eleganten Meditation über Moral, Verfall und zwischenmenschliche Spannungen verdichtet. Der Film, 1990 entstanden, trägt die Züge eines späten Werkes – nicht nur in seiner Tonlage, sondern auch im bewussten Umgang mit Vergänglichkeit. Ray, selbst bereits gesundheitlich angeschlagen, konfrontiert sich hier mit dem eigenen Sterben – durch den Blick eines alternden Vaters auf seine entfremdeten Söhne.

Im Zentrum steht Ananda Majumdar, ein angesehener, inzwischen pensionierter Industrieller, der zu Beginn des Films seinen 70. Geburtstag feiert – und kurz darauf einen Herzinfarkt erleidet. Um sein Krankenbett versammelt sich die Familie: vier Söhne, von denen jeder einen anderen Weg im Leben eingeschlagen hat – ein symbolisches Bild für die Äste eines einst starken Baumes, die in unterschiedliche Richtungen gewachsen sind. Ray macht aus diesem Setting kein weinerliches Kammerspiel, sondern eine schonungslose, präzise beobachtete Studie über familiäre Entfremdung, verdrängte Wahrheiten und den Preis der eigenen Entscheidungen.

Der Vater verkörpert Prinzipien: Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Arbeitsethos. Doch zwei seiner Söhne, mittlerweile erfolgreiche Geschäftsmänner, haben sich längst von diesen Werten verabschiedet. Stattdessen leben sie von Korruption, Vetternwirtschaft und Zynismus. Die Diskussionen am Esstisch – ein zentrales Motiv des Films – bringen das Unausgesprochene ans Licht: wie wenig Moral noch zählt, wie sehr das persönliche Fortkommen zum einzigen Maßstab geworden ist. Ray lässt seine Figuren reden, streiten, lügen, schweigen – und dekonstruiert so ganz ohne Pathos das Idealbild der harmonischen indischen Großfamilie.

Inmitten dieses Geflechts sticht eine Figur heraus: Proshanto, der zweitälteste Sohn, einst hochbegabt, nun durch einen Unfall geistig beeinträchtigt. Er lebt zurückgezogen, hört westliche Klassik, äußert sich nur selten – doch seine wenigen Worte treffen ins Herz. Während die anderen Söhne berechnend, pragmatisch oder verzweifelt sind, ist Proshanto der Einzige, der emotional reagiert, der aufschreit, wenn Unrecht geschieht. Soumitra Chatterjee spielt diese Figur mit unglaublicher Feinfühligkeit: verletzlich, naiv, aber moralisch unbestechlich. In Rays Konstruktion ist er der wahre Erbe des Vaters – nicht trotz, sondern gerade wegen seiner „Unangepasstheit“.

In langen, fast dokumentarischen Szenen zeigt Ray das gemeinsame Essen – Finger in Reis, Gespräche über das Leben, die Gesellschaft, die Familie. Doch dies ist keine folkloristische Behauptung von „indischer Andersartigkeit“. Im Gegenteil: Ray stellt bewusst Alltagssituationen dar, die westlichen Sehgewohnheiten entgegenstehen – nicht um zu provozieren, sondern um zu zeigen, dass hinter kulturellen Unterschieden universelle Fragen stehen. Wie gehen wir mit Alter um? Wie mit Verantwortung? Was bleibt von einem Leben, wenn man erkennt, dass die eigenen Kinder zwar erfolgreich, aber moralisch orientierungslos sind?

„Shakha Proshakha“ ist kein Film mit lauten Konflikten. Vielmehr schält Ray mit chirurgischer Präzision die Abgründe frei, die hinter höflicher Oberfläche liegen. Ehekrisen, Habgier, Schweigen, Misstrauen – es sind die kleinen Risse im Alltag, die sich als tiefe Spalten entpuppen. Während die Kamera durch das große, etwas verblasste Familienhaus gleitet, entsteht ein fast schmerzhaft realistisches Bild eines Niedergangs: nicht nur des Körpers (Anandas Herzinfarkt), sondern auch der Ideale, der Familienbindung, der Integrität.

„Shakha Proshakha“ ist ein Film über das, was bleibt, wenn nichts mehr zu beweisen ist – und das, was verloren geht, wenn Menschen sich selbst verleugnen. In seiner Zurückhaltung ist der Film kraftvoller als jedes Drama mit klarer Heldenreise. Satyajit Ray gelingt es, aus einer scheinbar alltäglichen Geschichte eine universelle Reflexion über Moral, Verantwortung und die Unmöglichkeit, das Leben seiner Kinder zu lenken, zu machen.

Gerade heute, in einer Zeit, in der Familienbindung oft durch Mobilität, Leistungsdenken und Individualismus ersetzt wird, hat dieser Film eine stille, aber brennende Relevanz. Er ist eine Einladung zur Selbstprüfung – und ein Vermächtnis eines Künstlers, der wusste, wie man das Menschliche sichtbar macht, ohne es zu erklären.

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