Indien gilt vielen deutschen Unternehmen als Hoffnungsträger im geopolitischen Umbruch – doch der neue Investitionshype birgt Risiken. Dieser analytische Kommentar zum „German Indian Business Outlook 2025“ hinterfragt, ob der Subkontinent tatsächlich die strategische Alternative zu China ist oder ob Wunschdenken und politische Kurzsichtigkeit zu einem gefährlichen Trugschluss führen.
Die geopolitische Weltordnung verschiebt sich, und mit ihr das wirtschaftliche Koordinatensystem deutscher Unternehmen. Die Ergebnisse des aktuellen „German Indian Business Outlook 2025“, erhoben von der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG und der Deutsch-Indischen Handelskammer, lesen sich wie ein Lagebericht aus einem neuen investitionsgelobten Land: 79 Prozent der befragten Unternehmen planen bis 2030 Investitionen in Indien – ein Rekordwert. Fast ebenso viele erwarten steigende Umsätze und Gewinne. Produktionsverlagerungen, neue Shared Service Center, Digitalisierung und KI-gestützte Transformation – all das scheint sich in Indien zu bündeln. Doch der Enthusiasmus wirft Fragen auf. Ist Indien wirklich die Antwort auf das China-Dilemma? Oder entsteht hier ein neuer strategischer Trugschluss, gespeist aus Wunschdenken, geopolitischem Opportunismus und ökonomischem Kurzschluss?
Was an der Oberfläche als logische Konsequenz globaler Spannungen erscheint, trägt bei genauerem Hinsehen Züge eines hektischen Ausweichmanövers. Die Vorstellung, man könne mit Indien eine Art China 2.0 erschließen – diesmal demokratischer, verlässlicher, weniger kontrollierend –, verkennt die grundlegenden Unterschiede in Infrastruktur, Verwaltungsapparat und industrieller Reife. Indien ist kein automatischer Ersatz für China. Während deutsche Unternehmen die Verlagerung ihrer Wertschöpfungsketten in Richtung Subkontinent planen, bleiben zentrale Herausforderungen ungelöst. Mehr als 65 Prozent der Befragten klagen über Bürokratie, langwierige Genehmigungsprozesse und regulatorische Unsicherheit – ein Wert, der sich im Vergleich zum Vorjahr kaum verändert hat. Der Umgang mit den sogenannten Quality Control Orders, die kurzfristige Zertifizierungen für eine wachsende Zahl an Produkten verlangen, wird insbesondere für den Mittelstand zum Kraftakt.
Ebenso fällt auf, dass der politische Kontext weitgehend ausgeklammert bleibt. Die von den Unternehmen betonte „politische Stabilität“ Indiens basiert vor allem auf dem Eindruck kontinuierlicher Regierungsführung. Doch Stabilität darf nicht mit Rechtsstaatlichkeit verwechselt werden. Die Regierung Modi verfolgt zunehmend nationalistische, protektionistische und zentralistische Agenden. Dass solche politischen Rahmungen plötzlich neue Hürden erzeugen können – wie bei den QCOs – zeigt sich bereits. Die Vorstellung, Indien sei geopolitisch neutral, blendet aus, dass auch dort ein Wirtschaftsnationalismus wächst, der Marktöffnung nicht immer mit Offenheit für ausländische Investoren gleichsetzt.
Hinzu kommt eine paradoxe Haltung zum Thema Nachhaltigkeit. 55 Prozent der deutschen Unternehmen nennen die Luftverschmutzung in indischen Metropolen als geschäftskritisch. Gleichzeitig planen sie milliardenschwere Investitionen, etwa in Produktions- oder Servicezentren in genau diesen Städten. Die ökologische Belastung, gepaart mit der zunehmenden Bedrohung durch Klimafolgen wie Hitze und Wasserknappheit, wird zwar registriert – doch scheint sie im unternehmerischen Kalkül nur bedingt handlungsleitend. Es drängt sich der Eindruck auf, dass Umwelt- und Klimarisiken zwar rhetorisch adressiert, operativ aber weitgehend verdrängt werden.
Erstaunlich offen artikulieren viele Unternehmen hingegen ihre Sorge vor indischer Konkurrenz. Fast die Hälfte der Befragten geht davon aus, dass indische Firmen dem eigenen Unternehmen innerhalb von fünf Jahren überlegen sein werden – ein dramatischer Anstieg gegenüber dem Vorjahr. Dass dieser Befund nicht als Warnsignal, sondern als implizite Bestätigung des Standortpotenzials gelesen wird, wirkt beinahe zynisch: Man wolle „nicht noch einmal überrascht werden“, heißt es mit Blick auf die Entwicklung in China. Deshalb investiere man nun frühzeitig in Indien – auch um von der lokalen Dynamik zu profitieren, ehe sie einem entgleitet. Das klingt weniger nach partnerschaftlichem Markteintritt als nach vorauseilender Schadensbegrenzung.
Auffällig bleibt, dass viele der in der Studie zitierten Investitionspläne – etwa in künstliche Intelligenz, robotergestützte Automatisierung oder Industrie 4.0 – zwar technologisch ambitioniert sind, jedoch kaum reflektieren, wie Schutzrechte, Datensouveränität und Know-how-Sicherung im indischen Umfeld gewährleistet werden sollen. Indien ist keine Blackbox, aber auch kein rechtsfreier Raum. Dennoch scheint die Euphorie über Digitalisierungspotenziale die strategische Sorgfalt zu überlagern.
Die Ergebnisse des „German Indian Business Outlook 2025“ markieren damit vor allem eines: eine Richtungsentscheidung unter Druck. Deutsche Unternehmen, zunehmend zwischen den Fronten der geopolitischen Systemrivalität, suchen nach Alternativen – und sehen in Indien einen Ausweg. Doch dieser neue Investitionshype trägt Züge eines hektischen Umsteuerns. Die politischen, ökologischen und operativen Rahmenbedingungen sind keineswegs einfacher als in China. Sie sind nur anders. Wer Indien strategisch bespielen will, muss die Unterschiede nicht nur anerkennen, sondern aktiv gestalten. Sonst droht – bei aller Hoffnung auf Diversifizierung – ein Déjà-vu mit veränderten Vorzeichen.
Foto: (c) Dileesh Kumar