Website-Icon theinder.net

Indiens Griff nach den Sternen

Zum ersten Mal ist ein indischer Staatsbürger Teil der Internationalen Raumstation. Seit Ende Juni lebt und arbeitet Shubhanshu Shukla (Foto), 39 Jahre alt, an Bord der ISS – gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus den USA, Polen und Ungarn. Die Teilnahme an der Ax-4-Mission des US-Unternehmens Axiom Space ist ein technisches Ereignis – aber auch ein symbolisches. Ein Inder im All, nicht mehr als passiver Passagier, sondern als Vertreter eines Landes mit wachsenden eigenen Ansprüchen.

Indien betritt damit sichtbarer denn je einen Raum, den jahrzehntelang nur wenige Nationen unter sich aufteilten. Die nationale Raumfahrtbehörde ISRO hat sich seit ihren Anfängen in den 1960er Jahren von einem entwicklungsorientierten Satellitenprogramm zu einer Organisation mit interplanetarischen Ambitionen gewandelt. Der Erfolg der Mondmission Chandrayaan-3 im Jahr 2023, die Erkundung des Mars, geplante Missionen zur Venus – sie zeugen von technologischer Beharrlichkeit, aber auch von einem zunehmenden geopolitischen Selbstverständnis.

Mit Shuklas ISS-Mission betritt Indien nun auch das Feld der bemannten Raumfahrt – zunächst im Rahmen internationaler Kooperation, bald mit eigenen Mitteln. Das Gaganyaan-Programm soll ab 2027 drei indische Vyomanauten (die indische Bezeichnung für Raumfahrer) für mehrere Tage in eine niedrige Erdumlaufbahn bringen. Eine eigene Raumstation ist für die Mitte der 2030er Jahre geplant, ein bemannter Flug zum Mond bis 2040. Die Richtung ist klar – und sie weist nach oben.

Doch Fortschritt ist nicht per se ein Beweis für Ausgewogenheit. Indien ist ein Land großer Ambitionen, aber auch großer Gegensätze. Während Milliarden in Trägerraketen und Orbitalmissionen fließen, leben weite Teile der Bevölkerung mit prekären Grundversorgungen: Stromausfälle, unterfinanzierte Schulen, mangelhafte medizinische Infrastruktur. Dass Raumfahrt und Entwicklung einander nicht ausschließen müssen, hat das ISRO-Programm in der Vergangenheit gezeigt. Doch der Spagat zwischen Weltall und Wirklichkeit wird größer – und die kritischen Stimmen lauter.

Auch technisch ist der eingeschlagene Weg nicht frei von Risiken. Indiens Raumfahrt gilt als effizient, nicht zuletzt, weil sie auf eigene Komponenten setzt, auf einfachere Designs, kürzere Testzyklen. Diese Strategie hat sich bei unbemannten Missionen bislang bewährt. Doch die Anforderungen der bemannten Raumfahrt – etwa an Redundanz, Sicherheit und Langzeitverlässlichkeit – sind ungleich höher. Ob der gewohnte Pragmatismus in diesem Feld Bestand haben wird, bleibt offen.

Seit 2020 wird der Raumfahrtsektor schrittweise liberalisiert. Mit der Gründung der Behörde IN-SPACe verfolgt die Regierung das Ziel, private Unternehmen stärker einzubinden – beim Bau von Satelliten, Raketen, Infrastruktur. Bis 2033 will Indien acht Prozent des globalen Raumfahrtmarkts erobern. Der politische Wille ist vorhanden, die regulatorischen Rahmenbedingungen ebenfalls. Doch an Grundlagen fehlt es: qualifizierte Fachkräfte, stabile Lieferketten, ein dauerhaft tragfähiges industrielles Ökosystem.

Europa beobachtet diese Entwicklung mit Interesse – und sucht die Nähe. Die ESA beteiligt sich am Gaganyaan-Programm, gemeinsame Trainings, Datenaustausch und Techniktransfers sind angedacht. Doch auch in dieser Partnerschaft zeigen sich Unterschiede im Selbstverständnis. Indien nutzt Raumfahrt als strategisches Instrument, als außenpolitisches Signal. Europa hingegen tut sich schwer mit der Idee, im All auch politisch zu agieren – jenseits von Erdbeobachtung und Navigationsdiensten.

Der Aufenthalt von Shubhanshu Shukla auf der ISS ist ein Einschnitt – für Indien, aber auch für die internationale Raumfahrt. Er markiert den Moment, in dem das Land nicht mehr nur als Nutzer, sondern als Mitgestalter eines globalen Zukunftsfeldes auftritt. Doch ob dieser Aufstieg dauerhaft sein wird, hängt nicht allein vom Erfolg einzelner Missionen ab. Sondern von der Fähigkeit, technologische Entwicklung, gesellschaftliche Bedürfnisse und strategische Verantwortung miteinander zu verbinden.

Raumfahrt war selten nur eine Frage der Technik. Sie war immer auch eine Frage der Erzählung. Indien hat begonnen, eine neue zu schreiben. Ob sie trägt, wird sich weniger im All entscheiden – sondern dort, wo das Leben stattfindet: auf der Erde.

Weitere Informationen:

Foto: (c) By Prime Minister’s Office (GODL-India), GODL-India

Die mobile Version verlassen