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Hungersnot 1943 – Epigenetisches Erbe des Kolonialismus

Ein moderater Rückgang der Reisproduktion durch Wirbelstürme und Pilzbefall hätte allein keine Katastrophe verursacht. Entscheidend war eine Reihe politischer Entscheidungen im Kontext des Zweiten Weltkriegs. Die britische Kriegsführung beanspruchte große Teile der Transport- und Nahrungsmittelressourcen. Requisitionsmaßnahmen entzogen der lokalen Bevölkerung Getreide und Boote, die traditionell für den Transport von Lebensmitteln genutzt wurden. Gleichzeitig erlaubte die Kolonialregierung massive Preisspekulationen, was die Preise für Reis innerhalb kurzer Zeit vervielfachte und für breite Teile der Bevölkerung unerschwinglich machte. Die britische Politik des „denial“ – also die vorsätzliche Zerstörung oder Beschlagnahmung von Nahrungsmitteln und Transportmitteln, um eine mögliche japanische Invasion zu erschweren – verschärfte die Lage zusätzlich. Hilfslieferungen aus anderen Teilen Indiens oder dem Empire wurden weitgehend verweigert, obwohl Lagerbestände vorhanden waren. Kritiker sehen hierin eine Kombination aus Kriegsstrategie, wirtschaftlichem Kalkül und rassistisch geprägter Gleichgültigkeit gegenüber der indischen Bevölkerung, die aus einer Versorgungskrise eine Hungerepidemie machte.

In den vergangenen Jahren hat die Forschung zunehmend die Hypothese diskutiert, dass solch extreme Hungersnöte nicht nur unmittelbares Leid verursachen, sondern auch langfristige Spuren im biologischen Erbe hinterlassen. Die Rede ist von epigenetischen Veränderungen, die durch pränatale und frühkindliche Mangelernährung ausgelöst werden können. Solche Veränderungen beeinflussen nicht die DNA-Sequenz selbst, sondern deren Aktivität, etwa durch Modifikationen wie DNA-Methylierung. Studien zu anderen Hungersnöten, insbesondere zur niederländischen Hungersnot 1944/45, haben gezeigt, dass Kinder, die während dieser Zeit im Mutterleib heranwuchsen, im Erwachsenenalter ein deutlich erhöhtes Risiko für Typ-2-Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Übergewicht aufwiesen. Bei ihnen wurden spezifische epigenetische Marker identifiziert, unter anderem im IGF2-Gen, die noch Jahrzehnte nach der Exposition nachweisbar waren. Vergleichbare Befunde liegen auch aus Bangladesch vor, wo die Hungersnot von 1974/75 in einer Kohortenstudie mit metabolischen Auffälligkeiten und DNA-Methylierungsunterschieden in Verbindung gebracht wurde.

Für Bengalen 1943 existieren bislang keine vergleichbaren molekularbiologischen Untersuchungen. Dennoch erscheint es plausibel, dass auch diese Hungersnot ähnliche Effekte hinterlassen hat, da Millionen Schwangere und Kinder in sensiblen Entwicklungsphasen betroffen waren. Auffällig ist, dass Menschen südasiatischer Herkunft bis heute ein erhöhtes Risiko für Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen aufweisen, oft schon in jungen Jahren und bei relativ niedrigem Körpergewicht. Diese Beobachtung passt zur sogenannten „thrifty phenotype“-Hypothese, nach der der Stoffwechsel sich in Erwartung knapper Ressourcen auf Sparsamkeit einstellt, in Zeiten des Überflusses jedoch krankheitsanfällig wird. Wiederholte Hungererfahrungen während der Kolonialzeit könnten ein solches „epigenetisches Gedächtnis“ über Generationen hinweg geprägt haben.

Auch wenn der Zusammenhang zwischen der Hungersnot von 1943 und den heutigen Krankheitslasten in Südasien bislang nicht durch direkte Daten belegt ist, wirft die Diskussion ein Schlaglicht auf die langfristigen Folgen kolonialer Politik. Sie macht deutlich, dass historische Traumata nicht nur gesellschaftliche und politische Nachwirkungen haben, sondern möglicherweise auch in der Biologie ganzer Bevölkerungen eingeschrieben sind. Um diese Hypothese zu überprüfen, wären weitere epidemiologische und molekulare Studien erforderlich, die speziell die Nachkommen jener Generation untersuchen, die den Hunger von 1943 überlebt hat.

Quellenangaben:

Foto: (c) By James Jarche, British Official Photographer, Part of UK Ministry of Information’s Second World War Collection, Catalog number JAR 1240 – Burmese refugees fleeing into India along Prome Road, January 1942, Imperial War Museum, Public Domain

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