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Hameeda Syed: „Narrative können Armeen besiegen“

Picture: (c) Rachit Sai Barak, The Queer Muslim Project
Hameeda Syed [she/they], freie Journalistin und Mitgründerin von Dignity in Difference, erzählt uns etwas über Identität, Macht und Zugehörigkeit. Ihre Arbeiten erscheinen in ganz Südasien und im grenzüberschreitenden Projekt Queer Caravan. In diesem inspirierenden Interview betont sie Queerness als eine Sprache, die zum Schweigen gebrachte Stimmen hörbar macht, hebt Freude als eine Form von Gerechtigkeit hervor und beschreibt Storytelling als Werkzeug für Sichtbarkeit und Widerstand – ein Archiv queerer Präsenz, das darauf beharrt: „Narrative können Armeen besiegen“. Hameeda unterstreicht zudem, dass Zugehörigkeit dadurch entsteht, dass man präsent ist, zuhört und die Geschichten der anderen weitträgt.

Anmerkung: Dieses Interview wurde aus dem Englischen übersetzt

Liebe Hameeda, vieles in deiner Berichterstattung handelt von Identität im Zusammenhang mit Geschlecht, Kultur und Macht. Wie fügt Queerness den Geschichten eine weitere Dimension zu hinzu?

Zunächst möchte ich theinder.net danken, dass Ihr mir ermöglicht, meine Gedanken zu teilen. Ich glaube, es sind Räume wie dieser, die dafür sorgen, dass so viele Geschichten existieren und gefeiert werden können. Auch Eure Arbeit ist wichtig und visionär – ich wünsche Euch für Euer Projekt alles Gute.

Vielen Dank…

Zu deiner Frage: Ich denke gern an Queerness als eine Sprache, die die in Geschlecht und Kultur vorhandene Stille artikuliert. Oder vielmehr als eine Sprache, die auf die Stille reagieren kann, die Macht in unserer Kultur normalisiert. Wer darf sprechen – und wessen Geschichten werden wertgeschätzt? Wessen Vorstellung von Zukunft gilt als vollkommen? Und wie reisen diese Perspektiven über Kulturen hinweg, um zu bestimmen, was normal ist – und was nicht? Als ich meine Reise mit der Queer Caravan begann, einem Projekt, das vom Queer Muslim Project, dem Goethe-Institut und dem Institut Francais Inde kuratiert wurde, kreisten viele unserer Gespräche um das Schweigen unserer Identitäten und wie Macht unsere Entscheidungen und unser Freiheitsverständnis prägt. Für uns sechs aus Deutschland, Frankreich und Indien stellte sich die brennende Frage: Wie machen wir uns sichtbar? Wie zeigen wir, was es bedeutet, an diesen multiplen Schnittstellen zu leben? Und wie verkörpern wir all das – Freude, Begehren, Angst, Furcht –, individuell und als Gemeinschaft, um Reflexionen und Strategien zu entfachen, die uns helfen, inklusive Zukünfte zu imaginieren?

Was als Online-Gespräche bei der Queer Caravan begann, wurde zu einem lebendigen Archiv queerer Imagination über Grenzen hinweg. Es wurde zu einer Art, uns in die gegenwärtige Geschichte, in die öffentliche Wahrnehmung einzuschreiben. Für mich wurde die Caravan zu einem Projekt und einer Praxis von Sichtbarkeit und Machtkritik – einem Beharren darauf, dass Queerness in ihrer ganzen Komplexität gesehen, gehört und gefeiert werden muss.

In Kaschmir und Südasien allgemein sind soziale und politische Zugehörigkeiten oft umkämpft: Wie fügen sich queere Stimmen in diese Narrative von Identität ein oder werden sie ausgeschlossen?

Im Kampf um Zugehörigkeit werden bestimmte Wahrheiten oft zugunsten des vermeintlich größeren Wohls privilegiert. Dabei werden Minderheitenstimmen, auch queere Stimmen, häufig ausgeschlossen. Macht liegt gewöhnlich bei dem, was bereits bekannt und gesellschaftlich akzeptiert ist – nicht bei dem, was diese Wahrheiten grundlegend infrage stellt. Ich sehe darin einen Moment von „Ziehen und Zerren“: Einerseits kommen in der Region mehr queere Geschichten ans Licht, die Zugehörigkeit neu definieren und die Diskussion erweitern. Andererseits nehmen Gegenreaktionen und Konsequenzen zu. Doch genau dieses Spannungsfeld schafft Raum für mehr Stimmen und mehr Tiefe. Als Geschichtenerzählerin schöpfe ich Hoffnung daraus, dieses Momentum zu nutzen und die Narrative zu verstärken – weil es eine leise Gelegenheit ist, Belege dafür zu sammeln, dass der Diskurs über Zugehörigkeit sich langsam in Richtung „niemanden zurückzulassen“ verschiebt.

Als jemand, die über Gerechtigkeit und Marginalisierung schreibt: Wie hälst du mit den Geschichten über Verletzlichkeit mit der Betonung auf Resilienz und Freude in queeren Gemeinschaften die Balance?

Ich glaube: Freude ist Gerechtigkeit. Ich war in vielen Räumen Zeugin, in denen Freude kultiviert wurde, um Ausdauer für zeitlosen Schmerz und Kummer zu schaffen. Eine Freundin von mir zitiert immer eine Zeile des berühmten Urdu-Dichters Faiz Ahmad Faiz: „Lambi hay gham ki shaam, magar shaam hi toh hay / Die Nacht der Trauer ist lang, aber es ist immer noch nur eine Nacht“.

Das klingt wunderschön…

Unsere Vorstellung von Verletzlichkeit zielt oft darauf ab, Schmerz darzustellen und zu artikulieren. Doch es gibt so vieles, worin wir verletzlich sein können, wenn wir lachen, bis uns die Luft ausgeht, oder wenn wir so dankbar sind, dass wir vor Rührung weinen. Oder wenn wir die schwierigsten Momente unseres Lebens ins Absurde verkehren und darüber scherzen können. Mir ist klar geworden, dass das Nichterzählen solcher Momente unserer Realität großes Unrecht antut und das Risiko birgt, die Annahme zu verstärken, wir könnten unsere Perspektiven nicht verändern – selbst dann, wenn sie unseren Werten nicht mehr dienen. Deshalb fühlte sich die Teilnahme an der Queer Caravan so natürlich an: Es ging darum, eine Geschichte zu erzählen, die alle außergewöhnlichen Momente des „Queering“ von Grenzen und Lebensentscheidungen umfasste – und das Beste daraus zu machen. Durch Freude, selbstverständlich.

Dein Journalismus verbindet oft persönliche und politische Realitäten. Wie prägt dein eigenes Identitätsverständnis die Fragen, die du stellst, und die Geschichten, denen du nachgehst?

Ich begann zu schreiben, weil ich so viele Fragen an mich selbst hatte. Schreiben war so etwas wie die geduldige Zuhörerin und Beobachterin meines Kampfes, die Stille in mir zu artikulieren. Diese Erfahrung lehrte mich, auch die Stille in anderen zu suchen. Wessen Macht formte ihre Worte? Wer sprach nicht mit mir – und warum? Auf diesem Weg erkannte ich meine eigenen Vorurteile, meine Privilegien. Ich lernte, Neutralität abzulegen, ehrlich zu meinen Werten zu stehen und so viele Hindernisse wie möglich zu beseitigen, die mein Zuhören und Vermitteln beeinträchtigen könnten.

Zugehörigkeit kann Zugang bedeuten – zu Ressourcen, Sicherheit oder Anerkennung. Wie nutzt du die Queer Caravan, um die Kämpfe und Forderungen queerer Menschen in Südasien nach Zugehörigkeit zu verstärken?

Zugehörigkeit ist etwas zutiefst Ursprüngliches. Viele von uns wählen unsere Werte deshalb. Weil die Natur der Queer Caravan es uns ermöglichte, zwischen Räumen, Städten und Menschen zu wandern, lebte Zugehörigkeit oft in flüchtigen, aber kraftvollen Momenten: Rachit, Maniza und Rafiul führten uns durch das Schreiben einer kollektiven Imagination; Douce, Kadir, Jamal, Poongodi, Zakaria und ich erschufen in Proben und auf der Bühne gemeinsam Zukünfte; die lebendigen Räume des Lesens, Reflektierens und Diskutierens wurden durch das französische Institut Indien und das Goethe-Institut ermöglicht. Diese Erinnerungen wurden zur Sprache für unsere Kämpfe und Forderungen – und zur Sprache für Freude und Widerstand. Die Queer Caravan hat mir gezeigt: Zugehörigkeit entsteht im Dasein, im Zuhören und im Weitertragen der Geschichten anderer. Für mich bleibt sie ein wandernder gemeinsamer Raum, ein fortlaufendes Archiv queerer Präsenz, das darauf beharrt: Jeder Mensch kann dazugehören, und jeder Mensch kann sich eine kraftvolle Zukunft vorstellen.

Storytelling kann infrage stellen, wer sichtbar sein darf. Welche Verantwortung tragen Journalist:innen deiner Meinung nach dabei, den Raum für queere Selbstrepräsentation und fluide Identitäten zu erweitern?

Ich habe einmal in einem Seminar zu Geschlecht und Macht diesen Satz gelernt: „Narrative besiegen Armeen“.

Wow…

Egal, welche Festung du wählst – das Narrativ hat Macht über unsere Handlungen und Entscheidungen. Journalist:innen besitzen Macht darüber, wer als Mensch gesehen, wer erinnert, wer betrauert wird. Deshalb muss das Medium Raum für Widersprüche halten – und die Worte zurückgeben, damit queere Leben sich zu ihren eigenen Bedingungen definieren können.

Der Raum, den mir die Queer Caravan bei theinder.net eröffnet hat, ist bereits ein Beweis für die Wirkung einer solchen Plattform über Grenzen hinweg. Wie könnte das in Redaktionskulturen aussehen, in Narrativen, die sich mit unterschiedlichen Ideologien überschneiden, und über viele weitere Grenzen hinaus, die wir gerade überschritten haben? Die Unausweichlichkeit queerer Existenz und der Mut, sie sichtbar zu machen, würden die Samen queeren Storytellings nähren – und letztlich eine queere Zukunft ermöglichen.

Vielen Dank für diese inspirierenden Momente.

Link: Queer Caravan – stories from India, France and Germany

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