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Amrita Cheema: „Der Begriff ‚Stadtbild‘ ist nicht mehr zeitgemäß“

Amrita Cheema ist eine international renommierte Journalistin und News Anchor. Als Rhodes-Stipendiatin promovierte sie an der Universität Oxford. Nach einer langen und erfolgreichen Karriere bei der Deutschen Welle in Deutschland, während der sie auch hochrangige Podien beim World Economic Forum moderierte, wurde Amrita Cheema als erste Büroleiterin der DW in Delhi berufen und baute dort die Indien-Redaktion auf. Obwohl sie in Indien aufwuchs, lebt sie länger in Deutschland als in jedem anderen Land. Für ihre Integrität und ihren multikulturellen Blick bekannt, hat sie Persönlichkeiten wie den Dalai Lama und Sir Edmund Hillary interviewt, sich für Repräsentation eingesetzt und betrachtet aktuelle Debatten wie die um das „Stadtbild“ als spaltend und überholt. Sie gibt fundierte Einblicke in die deutsch-indischen Beziehungen, die sich wandelnden Herausforderungen des Journalismus und Ratschläge für angehende Journalist:innen zu Ethik, Substanz und der Suche nach der eigenen Stimme.
Foto: (c) Deutsche Welle

Liebe Amrita, Sie wechselten von der Wissenschaft zum Journalismus und wurden schließlich News Anchor auf drei Kontinenten. Rückblickend: Welche journalistischen Prinzipien haben Sie über die Jahre geleitet, und wie haben sie sich entwickelt?

Ich bin eher zufällig zum Journalismus gekommen. Nach meiner Promotion in Geschichte an der Universität Oxford zog ich nach Deutschland – eine aufregende Zeit, kurz vor dem Fall der Berliner Mauer. Ich war fasziniert davon, Geschichte live mitzuerleben, vor allem, wie diese Ereignisse das Leben der Menschen direkt beeinflussten. Meine ersten Fernsehberichte stammten aus Berlin (Ost und West) zur deutschen Wiedervereinigung. Später drehte ich eine Dokumentation über Mecklenburg-Vorpommern mit dem Titel „Die Flucht nach vorn – von der Wiedervereinigung zur Einheit“.

Von Anfang an waren Ehrlichkeit und Integrität die zentralen Prinzipien meiner Arbeit. Diese Werte blieben konstant, egal ob ich in Bonn, Berlin, Delhi oder Sydney tätig war.

Welchen Einfluss hatte Ihr akademischer Hintergrund auf Ihre journalistische Arbeit?

Mein wissenschaftlicher Hintergrund hat meine Arbeit entscheidend geprägt. Die jahrelange Ausbildung in faktenbasierter Recherche und Analyse wurde zu einer Stärke von mir. Ich mag es, Themen tiefgehend zu durchdringen, Muster zu erkennen und daraus Schlüsse zu ziehen. Ebenso wichtig ist es mir zu verstehen, wie Nachrichten und Ereignisse das Leben der Menschen berühren, ihre Wahrnehmung prägen und ihre Entscheidungen beeinflussen. Menschen stehen immer im Zentrum meiner Geschichten.

Als „News Junkie“ war ich von der Dynamik aktueller Nachrichten begeistert – insbesondere von Breaking News. Mir war bewusst, dass meine Rolle als internationale News Anchor eine große Verantwortung mit sich bringt. Neben Genauigkeit und Analyse war es mir wichtig, unterschiedliche Perspektiven auf kontroverse Themen zu präsentieren. Dies spiegelte sich in der Vielfalt meiner Interviews und der Fragen wider, die ich in meinen Programmen stellte.

Die Medienlandschaft hat sich stark verändert…

Ja. Heute stehen Medien vor vielen Herausforderungen: Fake News, ideologische Angriffe auf liberale Werte, manipulierte Narrative und autoritäre Regierungen, die Journalistinnen und Journalisten ins Visier nehmen und unabhängige Medien schwächen. Gleichzeitig verändert sich Technologie rasant – und damit die Art, wie Menschen Nachrichten konsumieren. Wir müssen uns anpassen, dürfen dabei aber niemals die Werte kompromittieren, die journalistische Integrität stützen.

Das verlangt heute große Flexibilität und wohl auch Agilität von Journalistinnen und Journalisten und wirft die Frage auf, wie sie diese Veränderungen meistern. Ihre Entscheidungen prägen die Zukunft der Medien.

Sie wuchsen in Indien auf, wurden in England ausgebildet und machten Karriere in Deutschland und Australien. Wie prägt Ihre multikulturelle Identität Ihren Zugang zu Themen wie Migration, Zugehörigkeit und Repräsentation?

Identität ist ein Thema, das mich sehr interessiert. Meine eigene Identität entwickelte sich von einer primär indischen zu einer multikulturellen. Dabei gab es rassistische Erfahrungen, aber ich habe mich geweigert, mich als Opfer zu sehen.

Jedes Land hat sein eigenes Verständnis von Identität, Zugehörigkeit und die Rolle von Minderheiten. Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt – von „die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland“ zu einem Land, das aktiv internationale Fachkräfte anwirbt. Wir sind weit gekommen seit dem umstrittenen Slogan im Jahr 2000 „Kinder statt Inder”! „Multi-Kulti“ war einst ein Schimpfwort; heute gibt es in vielen Bereichen ein starkes Engagement für Diversität und Inklusion, auch bei der Deutschen Welle, wo ich viele Jahre arbeitete.

Ich hatte das Glück, in einem Beruf mit hoher Sichtbarkeit zu arbeiten und wichtige Themen ins Rampenlicht zu rücken. Viele junge Kolleginnen sahen mich als Wegbereiterin, da ich die erste News Anchor indischer Herkunft bei der DW war. So erkannte ich, wie wichtig Repräsentation ist – und meine Verantwortung gegenüber denen, deren Interessen in den Mainstream-Medien nicht sichtbar sind.

Wie haben Sie das umgesetzt?

Ich bemühte mich, diese Themen sichtbar zu machen: durch die Auswahl unserer Geschichten, durch die Begriffe, die wir verwendeten, für sensiblere Berichterstattung einzutreten und die Würde der Menschen zu schützen, über die wir berichteten. Ein Höhepunkt war das Global Media Forum der DW 2017 zum Thema „Identity and Diversity“. Dies zeigte, dass diese Fragen für die Relevanz der DW weltweit entscheidend sind.

Menschen identifizieren sich dort, wo sie Zugehörigkeit empfinden. Meine ursprüngliche Heimat ist Indien, Deutschland ist meine Wahlheimat. Ich bin in Indien aufgewachsen, lebe aber länger in Deutschland und fühle eine starke Bindung zu meinem Adoptivland.

Besonders spannend ist die Perspektive von Migrantinnen und Migranten der ersten Generation, die sich manchmal im Land ihrer Geburt entfremdet fühlen. Ich habe mehrere Podiumsdiskussionen zu diesem etwas komplexen Thema moderiert, für das es keine einfachen Antworten gibt.

Migration ist heute ein polarisierendes Thema, auch in Deutschland. Ich erinnere mich an die Anerkennung von Angela Merkels Haltung 2015 gegenüber Geflüchteten – „Wir schaffen das“. Heute gibt es Gegenwind. Die Debatte über „Stadtbild“, die an die Diskussion um „Leitkultur“ vor 25 Jahren erinnert, zeigt, dass gesellschaftliche Spannungen bestehen bleiben. Solche Begriffe sind nicht hilfreich, überholt und nähren die spaltende Agenda der extremen Rechten.

Wie schätzen Sie die aktuellen deutsch-indischen Beziehungen ein – insbesondere in Medien, Politik und Migration – und welche Narrative bleiben oft unerwähnt?

Lange schöpfte die Beziehung ihr Potenzial nicht aus, trotz guter Absichten der Regierungen. Ich begleitete zweimal den deutschen Bundeskanzler nach Indien – viel Wohlwollen, aber noch nicht genug, um die Partnerschaft über Respekt hinaus zu heben.

In den letzten Jahren gibt es neuen Schwung, sichtbar etwa beim G20-Gipfel 2023 und im Migrations- und Mobilitätsabkommen ein Jahr zuvor. In Zeiten politischer und wirtschaftlicher Unsicherheit suchen Länder nach stabilen Verbündeten. Deutschlands Fachkräftemangel trifft auf Indiens junge Profis; beide Seiten suchen kreative und nachhaltige Lösungen. Indiens demografische Dividende ist zu einer Chance geworden, Deutschlands demografisches Defizit auszugleichen.

Geopolitische Spannungen führten zu einer strategischen Neuausrichtung. Trotz einiger politischer Unterschiede setzen Deutschland und Indien auf pragmatische, gegenseitig vorteilhafte Beziehungen, mit Priorität auf Kooperation im Indo-Pazifik, wie jüngste Marinekooperationen zeigen.

In den Medien gibt es Austausch zwischen deutschen und indischen Journalistinnen und Journalisten. Es gibt auch das Indo-German Media Network, das Journalisten miteinander verbindet. Dennoch sind deutsche Korrespondenten in Indien selten, und Indien wird in deutschen Medien oft nur durch Katastrophen oder klischeehafte Geschichten sichtbar. Tiefergehende investigative Recherchen fehlen. Im indischen Medienspektrum besteht größeres Interesse an Deutschland, besonders in Wirtschaft, Finanzen und Technologie.

Welche Hürden begegneten Ihnen als Pionierin indischer Herkunft auf internationalen Medienbühnen?

Pionierarbeit kann einsam sein. Ich wuchs in einer indischen Familie auf, in der ich die gleichen Chancen erhielt wie mein Bruder. Ich gehörte zu den ersten Frauen an einem renommierten Männercollege in Delhi und zum zweiten Jahrgang von Studentinnen an meinem College in Oxford. Dadurch war ich es gewohnt, mich in männlich dominierten Umgebungen zu behaupten. 

Und wie war das Thema Geschlechterdiskriminierung im Journalismus?

Ich erinnere mich nicht an Diskriminierung beim Einstieg in die Medien. Meine erste Chefin beim All India Radio war eine starke Frau, von der ich viel lernte. Ich hatte viele entweder kompetente Frauen als Chefs, oder emanzipierte Männer, die keine Konkurrenz durch Frauen sahen.  

Viele der Mädchen- und Frauengruppen, an die ich mich im Laufe der Jahre gewandt habe, sagten, dass für sie der Schlüssel zur Stärkung von Frauen darin liege, weibliche Vorbilder zu haben.

Ich erkannte früh, wie wichtig es war, Kolleginnen zu vernetzen – etwa durch regelmäßige „Girls Nights Out“. Solche Initiativen stärkten das Vertrauen und halfen besonders bei Mobbing oder sexueller Belästigung.

Welchen Rat geben Sie angehenden Journalist:innen?

Gut informiert zu sein, ist essentiell – zudem gut vorbereitet; ich glaube nicht an „Fake it till you make it“. Seid Teamplayer, findet aber eure eigene Stimme. Bleibt euren Zielen verpflichtet, kennt eure Stärken und arbeitet an euren Schwächen. Setzt hohe Standards, ohne kurzfristig Kompromisse bei der Qualität einzugehen, und sucht stets Substanz über Show. Wählt eure Arbeitgeber so, dass ihre Ziele mit euren journalistischen Prinzipien übereinstimmen.

Im Laufe Ihrer Karriere haben Sie Führungspersönlichkeiten, Dissidenten und Nachrichtenmacher interviewt. Können Sie ein oder zwei Begegnungen oder Anekdoten teilen, die Ihr Verständnis von der Wirkung des Journalismus besonders geprägt haben?

Ja, während meiner TV-Karriere habe ich viele prominente Menschen aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen interviewt. Auch durch hochkarätige Debatten, die ich beim World Economic Forum und anderen bedeutenden Veranstaltungen moderierte. Meine Podiumsdiskussionen umfassten, Politiker, Entscheidungsträger, Experten, Technokraten und Vertreter der Zivilgesellschaft. Ich habe auch viel gelernt, über eine Reihe zentraler Themen zu vertiefen, die mir sehr am Herzen lagen – wie Ernährungssicherheit, Wasserknappheit, Geschlechterungleichheit, Klimawandel, soziale Ungleichheit, Vertrauen und vieles mehr.

Aber das Interview, das ich als das schwierigste empfand, war jenes mit Sir Edmund Hillary – dem legendären Bergsteiger, der 1953 zusammen mit dem Sherpa Tenzing Norgay als erster den Mount Everest bestieg. Er war warmherzig, witzig und bescheiden. Als Bergsteigerin selbst hatte ich sehr viel Ehrfurcht vor ihm – was es mir schwer machte, die professionelle Distanz zu wahren, die für ein gutes Interview nötig ist. Eine ähnliche Situation erlebte ich, als ich Seine Heiligkeit, den Dalai Lama, traf.

Wenn Sie zurückblicken – gäbe es berufliche Entscheidungen, die Sie gern noch einmal treffen würden, und andere, die Sie ändern würden?

Ich hatte ursprünglich nicht geplant, Journalistin zu werden, aber ich bereue es keineswegs. Besonders weil mein akademischer Hintergrund mir eine solide Grundlage für meine Medienarbeit gegeben hat. Ich arbeitete bei Organisationen, in denen journalistische Werte Priorität hatten, die mir entgegenkamen. Obwohl öffentlich-rechtliche Sender heutzutage mit einiger Kritik konfrontiert sind, habe ich positive Erfahrungen gemacht. Den Großteil meiner Laufbahn war ich bei einem internationalen öffentlich-rechtlichen Sender, der mir die Freiheit gab, relevante Themen ohne politischen Druck zu verfolgen. Insgesamt kann ich also sagen, dass ich mit meinen beruflichen Entscheidungen zufrieden bin – auch wenn sie nicht meinem ursprünglichen Lebensplan entsprachen.

Welche frühen Entscheidungen würden Sie jungen Journalistinnen und Journalisten empfehlen nachzuahmen – und welche sollten sie vermeiden?

Ich würde jungen Journalistinnen und Journalisten raten, sich sehr klar darüber zu werden, warum sie diesen Beruf ergreifen wollen. In meiner Laufbahn habe ich oft junge Menschen getroffen, die vom vermeintlichen Glamour eines Fernsehstars geblendet waren. Ich riet ihnen, sich zunächst darauf zu konzentrieren, gute Journalistinnen und Journalisten zu werden und sich ein eigenes Fachgebiet aufzubauen. Vor der Kamera zu stehen sollte das Nebenprodukt ihrer journalistischen Arbeit sein. Ich erklärte, dass ich Nachrichten – insbesondere in Breaking News– nur deshalb souverän moderieren konnte, weil ich gut informiert war. Ich wollte keine „Autocutie“ sein – also jemand, der hübsch aussieht und einfach nur vom Teleprompter (Autocue) abliest! Meine Aufgabe war es, das Publikum verständlich zu informieren und Wissen zu vermitteln, das über das Offensichtliche hinausgeht, damit die Menschen fundierte Entscheidungen treffen können.

Ich würde jungen Leuten also raten, Leidenschaft für ihre Arbeit zu entwickeln – und keine Angst zu haben, ihren Weg zu ändern, wenn sie merken, dass sie mit ihrer Richtung unzufrieden sind. Der Schlüssel liegt darin, Erfüllung und Freude in dem zu finden, was man tut.

Diese Haltung gefällt mir. Abschließend: Welchen Rat würden Sie heutigen Journalismus-Studierenden geben, um Qualität, Ethik und ihre eigene Stimme in einer Zeit digitaler Umbrüche, Desinformation und Polarisierung zu bewahren?

Das ist eine der größten Herausforderungen für junge Journalistinnen und Journalisten.

Da sie jedoch mitten in diesen gewaltigen technologischen Umbrüchen aufwachsen, sind sie nicht so schockiert oder verunsichert davon wie meine Generation. Disruption kann sehr kreativ sein, weil sie neue Ideen und Denkweisen hervorbringt und mit konventionellen Mustern bricht. Desinformation hingegen ist eine Plage – und wir müssen sehr wachsam sein, nicht nur als Journalistinnen und Journalisten, sondern auch als Bürgerinnen und Bürger. Glücklicherweise gibt es inzwischen Werkzeuge, mit denen sich Fake News erkennen und bekämpfen lassen – aber der Weg ist noch weit. Polarisierung ist ein noch schwierigeres Thema, vor allem, wenn staatliche Akteure gezielt Narrative fördern, die politisch oder gesellschaftlich spaltend wirken. Medienkompetenz und Faktencheck-Workshops sind daher wichtiger denn je, um das Bewusstsein in der Bevölkerung zu stärken.

Den Großteil meiner beruflichen Laufbahn habe ich in Deutschland gearbeitet, wo ich mich aufgrund meiner Berufswahl und Themenauswahl nie unter Druck gesetzt fühlte. Anders war es, als ich das Büro der Deutschen Welle in Delhi aufbaute. Mein Team und ich berichteten über alle Themen, die wir für wichtig hielten – fair und ausgewogen. Ich ließ mich auch dann nicht beirren, wenn Behörden anriefen und unsere Berichterstattung in Frage stellten.

Journalistin zu sein ist nicht einfach ein Beruf – es ist eine Berufung.

Das ist ein perfektes Schlusswort – vielen Dank, dass Sie Zeit für uns hatten und andere inspirieren.

Fotos: (c) Deutsche Welle, World Economic Forum

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