Indien kennt keine einheitliche Landessprache, sondern ein faszinierendes Geflecht aus über 150 Sprachen, die unterschiedlichen Familien angehören und Jahrtausende alte Traditionen widerspiegeln. Vom Sanskrit über Hindi bis Tamil erzählt jede Sprache ihre eigene Geschichte und prägt die kulturelle Vielfalt des Subkontinents.
Wer in Indien nach „der indischen Sprache“ fragt, wird meist mit einem stillen Lächeln bedacht. Der Grund ist einfach: Eine gemeinsame Landessprache existiert nicht. Der indische Subkontinent ist ein sprachliches Universum, in dem sich über 150 Sprachen und unzählige Dialekte begegnen – Sprachen, die verschiedenen Familien angehören, sich gegenseitig beeinflussen und zugleich Ausdruck tief verwurzelter kultureller Identitäten sind.
Die meisten dieser Sprachen gehören zur indoarischen Gruppe, einem Zweig der indogermanischen Sprachfamilie. Daneben stehen die dravidischen Sprachen, die vor allem im Süden verbreitet sind, sowie kleinere Gruppen austroasiatischer und sinotibetischer Herkunft. Indien vereint damit Sprachwelten, die unterschiedlicher kaum sein könnten – und doch seit Jahrtausenden in engem Austausch stehen.
Eine verbindende Sprache gibt es nicht, auch wenn Hindi und Englisch als offizielle Amtssprachen fungieren. Die indische Verfassung erkennt darüber hinaus 15 weitere Sprachen an – von Bengali über Tamil bis Urdu –, die in Verwaltung, Bildung und Kultur selbstverständlich nebeneinander existieren. Im benachbarten Pakistan ist Urdu Staatssprache, in Bangladesch das verwandte Bengali.
Die Geschichte der indischen Sprachen reicht weit zurück. Das älteste überlieferte Stadium, das vedische Sanskrit, entstand um 1500 v. Chr. und ist die Sprache der heiligen Schriften des Hinduismus. Jahrhunderte später bildete sich daraus das klassische Sanskrit, in dem Philosophie, Poesie und die großen Epen Mahabharata und Ramayana verfasst wurden. Es war die Sprache der Gelehrten und Priester – und ist bis heute Symbol einer geistigen Tradition, die Indien geprägt hat wie kaum eine andere.
Ab dem dritten Jahrhundert v. Chr. entwickelte sich das sogenannte Mittelindische, auch Prakrit genannt, eine Sammelbezeichnung für zahlreiche regionale Dialekte des Sanskrit. In einer dieser Varietäten, dem Pali, entstanden die kanonischen Schriften des Buddhismus, die bis heute in Ländern wie Sri Lanka und Myanmar liturgisch verwendet werden. Aus diesen gesprochenen Formen des Prakrit gingen schließlich ab dem 10. Jahrhundert die modernen Sprachen Nordindiens hervor.
Heute zählt man über 400 Millionen Sprecher indoarischer Sprachen. Hindi, Urdu, Bengali, Gujarati, Marathi oder Punjabi gehören zu den wichtigsten. Hindi und Urdu sind dabei zwei Seiten derselben Medaille: Sie klingen nahezu identisch, unterscheiden sich jedoch in Schrift und Wortschatz. Während Hindi auf das Sanskrit zurückgreift und in Devanagari geschrieben wird, verwendet Urdu zahlreiche persisch-arabische Begriffe und eine arabische Schrift. Beide entstanden im Raum Delhi und bildeten lange Zeit gemeinsam das sogenannte Hindustani, die Verkehrssprache Nordindiens, die Händler, Soldaten und Dichter verband.
Im Süden des Landes leben die Sprecher der dravidischen Sprachen – rund 150 Millionen Menschen, deren sprachliche Traditionen ebenso alt und eigenständig sind wie die des Nordens. Tamil, Telugu, Kannada und Malayalam sind die vier großen Vertreter dieser Familie. Sie besitzen eigene Schriften und Literaturen, von denen insbesondere das Tamil eine herausragende Rolle spielt: Es gilt als eine der ältesten noch gesprochenen Sprachen der Welt, deren literarische Wurzeln bis in die ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung reichen.
Daneben existieren weitere, weniger bekannte Sprachzweige. Die Munda-Sprachen, darunter Santali, gehören zur austroasiatischen Familie und werden in verstreuten Regionen Zentral- und Ostindiens gesprochen. Entlang der Himalaya-Grenzen finden sich sinotibetische Sprachen, die an die Nachbarländer Tibet und Myanmar anschließen. Sie alle zeugen von der tiefen historischen Schichtung, die Indien zu einem der komplexesten Sprachräume der Welt macht.
Die meisten indischen Schriftsysteme lassen sich auf eine gemeinsame Quelle zurückführen: die Brahmi-Schrift, die bereits im 3. Jahrhundert v. Chr. belegt ist. Aus ihr gingen Devanagari und zahlreiche regionale Varianten hervor – von Gujarati bis Bengali. Daneben steht die persisch-arabische Schrift, die mit der islamischen Kultur nach Indien gelangte und in Urdu, Sindhi oder westlichem Punjabi verwendet wird.
Indien ist kein Land einer einzigen Sprache, sondern eine Zivilisation, die von der Koexistenz vieler lebt. Jede dieser Sprachen – ob Sanskrit oder Tamil, Hindi oder Bengali – trägt ihre eigene Welt, ihre Mythen, ihre Musik. Wer also das nächste Mal sagt: „Sag doch mal etwas auf Indisch“, sollte wissen, dass es in Indien nicht eine Sprache gibt, sondern Hunderte – und dass jede von ihnen eine eigene Geschichte erzählt.
