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Martin Kämpchen: „Ich vermisse Indien jeden Tag“

Foto: (c) Samiran Nandy, 2024

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Herr Kämpchen, Rabindranath Tagore prägte das geistige Fundament des modernen Indien: als Dichter, Philosoph, Erzieher und Universalgelehrter. In meinem Elternhaus waren „Gitanjali“ und „Shyama“ zwar präsent, und doch scheint Tagores literarische Stimme im Westen heute nahezu verstummt. Es sind Stimmen wie die Ihre, die seine Tiefe und Aktualität wachhalten. Aber warum, glauben Sie, ist das so?

In den 1920er Jahren war Rabindranath Tagore in Europa und besonders in Deutschland eine Berühmtheit. Er vermochte die deutsche Bevölkerung über den verlorenen Ersten Weltkrieg hinwegtrösten, indem er Deutschland als ein bedeutendes Kulturland lobte, das sich mithilfe seiner kulturellen Werte wieder aufrichten werde. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Tagore nicht mehr gelesen. Hermann Hesse bemerkte, er werde für seine übergroße Popularität bestraft. Es fehlte der Impuls, ihn wie in den 1920er Jahren anzunehmen. Gefühlvolle, oft reichlich pathetische Lyrik war charakteristisch für Tagore. Aber gerade Gefühl und Pathos waren nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland verpönt, weil die „Blut-und-Boden“-Literatur des Dritten Reiches gerade davon zu viel gezeigt hatte. Hinzu kommt, wie Sie sagen, die Übersetzung. Bisher war Tagore in Deutschland nur über Tagores eigene englische Gedichtversionen bekannt geworden, nicht durch Übersetzungen aus dem Original. Tagores eigene englische Versionen sind, verglichen mit den bengalischen Originalen, schwach, blutleer, kraftlos – ohne Metrum und Vers und Reim. Dieser Mangel wurde nun, nach einem Abstand von einem halben Jahrhundert, erkannt.

Sie gelten als einer der bedeutendsten Übersetzer Tagores ins Deutsche. Die indischen Sprachen – vor allem das Bengali – sind reich an Mehrdeutigkeiten, Nuancen, poetischer Bildsprache…

Ich halte Rabindranaths Lyrik und seine Lieder für seine wichtigsten Schöpfungen. Sie sind das, was ihn zum Schriftsteller von Weltliteratur gemacht hat. Darum habe ich mich als Übersetzer auf seine Gedichte und Lieder konzentriert. Ganz richtig, sie sind am schwersten in eine andere Sprache zu übertragen, zumal wenn es sich um eine Sprache, wie die deutsche handelt, die kulturell so weit von Bengali entfernt ist. Ich habe also nicht nur von einer Sprache in die eigene übersetzt, sondern auch von einer Kultur, einer Religion oder Spiritualität und einem emotionalen Kosmos.

Experten sagen, dass eine wortgetreue Übersetzung Tagores kaum möglich sei.

Sie haben recht, Rabindranaths Lyrik zu übersetzen ist unendlich schwierig. Ich habe Bengali in Santiniketan gelernt, habe unter Bengalen jahrzehntelang gewohnt, habe mit dem Erbe und in der Atmosphäre von Tagore in Santiniketan jahrzehntelang gelebt. Die Immersion in Tagores Welt war fast total. Das hat es mir möglich gemacht, ihn zu übersetzen – und neben einer großen Portion Kühnheit, vielleicht Tollkühnheit. Meine Übersetzungen sind meine eigenen, doch habe ich jedes Gedicht mehrmals mit verschiedenen Personen in Santiniketan – in bengalischer Sprache – besprochen und vor allem mir jedes Gedicht immer wieder vorsprechen lassen. Mein Anspruch war, philologisch genau und literarisch angemessen zu übersetzen. Meine erste Sammlung von fünfzig Gedichtübersetzungen hat mich vier Jahre der Vorbereitung gekostet, nicht weniger. Aber ich verrate Ihnen etwas: ich bin oft an Tagores Werken verzweifelt und habe so manche Übersetzung aufgegeben. Vor zehn Jahren habe ich ganz damit aufgehört, ich wollte meine eigenen Bücher schreiben.

Aber vielleicht ist es auch das Besondere, dass jede Übersetzung Tagores individuell ist. Was macht für Sie eigentlich eine „gute“ Übersetzung aus – geht es eher um sprachliche Nähe oder um atmosphärische Treue?

Ein gutes Gedicht ist ein „Gesamtkunstwerk“ aus Sprachaussage, Sprachmelodie, Rhythmus, Reim und Emotionalität. Diese Ebenen müssen genau aufeinander abgestimmt sein und auf eine intuitive Weise zueinander passen. Nur dann ist die Übersetzung perfekt, wenn auch sie ein solches Gesamtkunstwerk darstellt.

Sie sagten, sie wollten Ihre eigenen Bücher schreiben. Sie haben ja auch drei Kinderbücher in englischer Sprache geschrieben?

Das stimmt. Ein Buch ist deutsch unter dem Titel „Zusammen sind wir stark“ erschienen. Ich habe Lesungen vor Kindern u.a. in Mumbai und Kolkata gehalten; die jungen Menschen waren begeistert, was mich sehr gefreut hat.

Ihre Annäherung an Indien ist nicht zuletzt durch die spirituelle Dimension geprägt. Wie haben Sie persönlich den Zugang zur Spiritualität gefunden?

Ich bin in einer katholischen Familie aufgewachsen und bin bis heute ein praktizierender Katholik. Zum Erwachsenwerden gehört, dass man die Beziehung zur Religion überdenkt und neu definiert. Ich entdeckte in mir eine Neigung zur Mystik und Verinnerlichung und eine Relativierung des katholischen Ritualismus. Meine Suche führte mich zu einer Spiritualität, bei der nicht so sehr „Glaube“ und Ritus wichtig war, sondern die Suche nach religiöser „Erfahrung“. Das brachte mich zu Swami Vivekananda und Sri Ramakrishna. Hinzu kam eine für ernsthaft suchende junge Menschen typische Verwirrung: Wie kann man sich innerhalb der Vielfalt von Angeboten, sein Leben zu gestalten, von Möglichkeiten zu wissen und zu erfahren, zurechtfinden?

Die Suche nach Orientierung…

Ja! Was zuerst tun, was danach? Da half mir die Meditation und die Lektüre der Mystiker, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden. Von dieser Entwicklung schreibe ich ausführlich in meiner Autobiographie „Mein Leben in Indien“ (Anm. d. Red.: Patmos Verlag 2022).

Beobachter sehen mit Sorge, dass sich in Indien religiöse Autoritäten zunehmend politisieren lassen. Ist der säkulare Charakter des indischen Staates in Gefahr?

Säkularität, das heißt: die Gleichwertigkeit der Religionen, ist, wo immer sie besteht oder angestrebt wird, in Gefahr.

Warum „immer“?

Weil Religion zur Absolutierung neigt, zum Fundamentalismus, solange sie kein solides rationales Gerüst besitzt. Innerhalb des europäischen Kulturkreises würde man sagen: …solange nicht Aufklärung und Humanismus die Religion relativiert. „Mein Gott ist nicht dein Gott – dein Gott ist nicht mein Gott“ ist so tief in den Schwächen des Menschen – also im Egoismus, in der Irrationalität, der fehlenden Flexibilität und fehlenden Kreativität – angelegt! Die Menschen verstehen nicht: Wenn sie zwischen „mein Gott“ und „dein Gott“ unterscheiden, können sie nicht Gott meinen, der nur unendlich und ewig und jenseits aller Begrenzung sein kann, um Gott zu sein.

Indien war lange Zeit ein Vorbild für das Zusammenleben unterschiedlicher Religionen. Sehen Sie diese Stärke gefährdet?

Es ist offensichtlich, dass die Politisierung des religiösen Lebens problematisch ist. Sie polarisiert, anstatt zusammenzuführen. Bei Politik geht es um Wahlen und Stimmenmehrheit, bei der Religion ist die individuelle Wahl einer bestimmten Lebensform rundum einen Glaubens- und Erfahrungskern wesentlich. Im tagtäglichen Leben sehe ich jedoch, dass die Menschen verschiedener religiöser Herkunft meist zusammenarbeiten, eben weil sie aufeinander angewiesen sind. Religion ist dabei nicht ausschlaggebend, sondern die beste Möglichkeit, sein Leben angemessen weiterzuführen. Und das braucht Kooperation, Partnerschaftlichkeit und Vertrauen zueinander.

Lassen sich Parallelen zur gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland ziehen?

In Deutschland ist die religiöse Zugehörigkeit im Alltag nicht mehr wichtig. Meist wissen die Menschen nicht, ob der Handelspartner, die Nachbarn, die Stammtisch-Mitglieder katholisch oder evangelisch sind. Die ethnische Identität ist prägender und unterscheidender und führt zu unterschiedlichen Blockaden beim Zusammenleben.

Wie zuvor gesagt, haben Sie viele Jahre in Santiniketan gelebt, mit der lokalen Bevölkerung, in deren Sprache und Denkweise. Erinnern Sie sich an Ihre ersten Eindrücke?

Als ich 1980 in Santiniketan ankam, war der Ort ein großes Dorf; 45 Jahre später ist es eine mittelgroße Stadt. Der Kern, also der „Ashram“, ist unangetastet, aber rundherum ist sehr viel anders geworden. Es gibt Supermärkte, große Hotels, vornehme Restaurants – also auch Vieles, was dem Ethos von Santiniketan widerspricht. Damals gab es nur zwei oder drei Autos, man konnte noch mitten auf der Straße einen Schwatz anfangen. Fußgänger und Fahrräder dominierten, sowie Fahrradrikshas. Heute kann ich nur bei Lebensgefahr die Straße überqueren. Vierzig Jahre konnte ich problemlos auf meinem Rad fahren, vor zwei Jahren habe ich es aufgegeben…

wie verlief Ihr persönlicher Integrationsprozess?

Obwohl ich 1980 schon einen Dr. phil. von der Universität Wien hatte, habe ich mich an der Universität von Santiniketan, Visva-Bharati, immatrikuliert, um ein zweites Doktorat zu machen. Ich galt jahrelang als Student und wurde nicht eingeladen, an den akademischen und kulturellen Aktivitäten teilzunehmen, um meine Erfahrungen einzubringen. Ich blieb isoliert. Nur ein Rektor, Professor Sushanta Datta Gupta, hat mich in die akademische Kommunität integriert und mir dazu verschiedene Möglichkeiten – Vorträge, Teilnahme an Komitees – eröffnet. Der Nachteil bei der Integration war, dass meine Arbeit über Tagore – nämlich meine Übersetzungen, die Biographie von Tagore im Rowohlt Verlag, meine Forschungen über Tagores Beziehungen zu Deutschland im Wesentlichen in deutscher Sprache stattfand, weshalb die akademische Gemeinde in Santiniketan darüber wenig wusste. Ich konnte mich dadurch aber auch von den Eifersüchteleien und kleinlichen Streitigkeiten im Ort fern halten.

Aber Integration kann ja nicht nur auf beruflicher Ebene satttfinden…

Das ist natürlich richtig, Integration fand bei mir fast immer nur über Freundschaften statt. Es war eine große Auszeichnung, wenn Einheimische mich als Freund betrachteten und keinen Unterschied machten, woher ich komme. Zudem ist etwa ein Fünfjahresvisum der indischen Regierung auch eine Form der Wertschätzung, das habe ich übrigens dem damaligen Botschafter in Berlin, Ronen Sen, zu verdanken, mit dem ich bis heute befreundet bin.

Wie hat das Leben in Indien Sie verändert?

Das Leben in Indien hat mich sehr verändert. Bedenken Sie, dass ich mit 24 Jahren nach Indien gekommen und fünfzig Jahre geblieben bin. Ich wollte eigentlich gar nicht so lange bleiben, Afrika (Nigeria) war das ursprüngliche Ziel und aufgrund dortiger politischer Unruhen habe ich eher zufällig und spontan Indien gewählt.

Eine schicksalhafte Entscheidung.

Das kann man wohl sagen. In dieser Zeit war mein längster Aufenthalt in Europa knapp über drei Monate. Indien hat mich geformt, es hat mich zu dem gemacht, was ich bin, und zwar in Konformität zu Indien und in Opposition zu Indien. In Deutschland hörte ich oft, ich würde mich wie ein Inder verhalten; in Indien hörte ich, ich sei ein „Bengale“ geworden. Eine Zeitung nannte mich „an honorary Bengali“. Naja, ich wollte bewusst die guten Seiten des bengalischen Temperaments in mich aufnehmen, aber manches andere lehnte ich auch ab.

Sie sprechen negative Erfahrungen an.

Ja, zum Beispiel verletzt es mich geradezu, wie Menschen der Mittelklasse mit der armen und wenig gebildeten Bevölkerung umgehen. Klassenunterschiede lehne ich radikal ab; ebenso, wie Frauen manchmal entwürdigt werden. Aber den großen Familiensinn der Inder, ihre unbeirrbare Loyalität gegenüber der Familie, besonders auch den Älteren und Gebrechlichen, bewundere ich und nenne dies häufig in meinen Vorträgen hier, weil dieser enge Familienzusammenhalt in Deutschland fehlt. Auch die herzerwärmende Vitalität und das fröhlich Naturell vieler jungen Inder tun mir richtig gut. Ausführlich schreibe ich zu diesem Thema in meinem Buch „Der Duft des Göttlichen. Indien im Alltag“ (Anm. d. Red.: Patmos Verlag 2025).

Sie engagieren sich in Dorfprojekten.

Ja, genauer gesagt in Dörfern von Santals, das sind indigene Völker, die zu den „scheduled tribes“ gehören. Ich setze mich für Bildung ein, und zwar nach dem Prinzip der ganzheitlichen Pädagogik von Tagore.

Sie leben heute wieder in Deutschland. Hatten Sie jemals den Gedanken, ganz in Indien zu bleiben?

Ja, schon sehr früh hatte ich einen Antrag auf die indische Staatsbürgerschaft gestellt, und sie wurde mir auch angeboten.

Das ist ja schon eine Leistung…

Ich habe dann aber den Schritt, meinen deutschen Pass abzugeben, um einen indischen Pass zu bekommen, nicht vollzogen.

Warum das?

Ich hätte auf jeglichen Besitz in Deutschland verzichten müssen, also auch nicht das Elternhaus erben können. Mein deutsches Bankkonto hätte ich aufgeben müssen. Das schien mir zu unsicher, zumal beinahe mein gesamtes Einkommen aus Deutschland und Österreich zusammenkam – von Verlagen, Zeitschriften, Radioanstalten usw. – Ich lebe seit 2023 wieder in Deutschland, weil ich schwer krank wurde. Ein Tumor wurde operiert. Seitdem bekomme ich regelmäßig Infusionen, was mich an Deutschland bindet. Ich vermisse Indien jeden Tag.

Ein einfacher, aber sehr schöner Satz. Wie gestalten Sie heute Ihren Alltag? Gibt es derzeit Projekte, die Sie besonders beschäftigen? Im Ruhestand scheinen Sie mir nicht zu sein.

Meine Arbeit geht weiter. Ich schreibe jeden Tag. Nach der Operation habe ich „Der Duft des Göttlichen. Indien im Alltag“ geschrieben und veröffentlicht. Überall im deutschen Sprachraum biete ich Lesungen und Diskussionen zu diesem Buch an, das, thematisch gegliedert, die Summe meiner fünfzigjährigen Erfahrungen im indischen Alltag bildet.
Ich habe auch wieder ein Kinderbuch in englischer Sprache geschrieben, mein drittes („We Live Here, You Know“. Niyogi Books, New Delhi 2025; in bengalischer Übersetzung von Jaykrishna Kayal: „Footpather Swapna“, Ananda Publishers, Kalkutta 2025), was mir eine riesige Freude macht. Jeden einzelnen Tag erinnere ich mich an Indien. Wenn ich träume, dann bin ich immer in Indien! Meine jungen Freunde, meine gleichaltrigen Gesprächspartner, das Temperament der Menschen, die Atmosphäre – alles vermisse ich! Im Winter werde ich wieder für einen Monat hinfahren.

In Ihren Worten sprechen Leidenschaft und Sehnsucht zugleich

… und doch versuche ich, Anschluss an die deutsche und europäische Wirklichkeit zu bekommen. Es ist nicht leicht. Denn ich vermisse vor allem die leichtlebige, unkomplizierte Kommunikationsfähigkeit der Inder. Dort: Man spricht sich an, man besucht den anderen, man lädt ein; hier: Übertrieben ausgedrückt, lernt man seinen Nachbarn erst kennen, wenn er gestorben ist und man zum Begräbnis eingeladen wird (beide müssen lachen).

Wechseln wir weniger elegant das Thema: In den letzten Jahren ist das Interesse Deutschlands an Indien deutlich gestiegen – in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, aber auch in der Popkultur. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung? Was sind aus Ihrer Sicht die Chancen – und vielleicht auch Risiken?

Indien gewinnt als Wirtschaftspartner Deutschlands immer größeres Gewicht. Bollywood-Filme werden immer häufiger angeboten; die Tourismusindustrie expandiert mit der Vermarktung des „Incredible India“. Die Politik wird prominenter, wird aber seit einem Jahrzehnt allgemein kritisch beobachtet. Wie steht es jedoch mit dem intellektuellen, literarischen und allgemein kulturellen und wissenschaftlichen Leben in Indien – was kommt davon rüber zu uns nach Deutschland?

Kaum etwas?

Ja, sehr wenig. Indien ist und bleibt ein rätselhaftes Land, das nur wenige wirklich tief erfassen wollen. Trotzdem: Es gibt Dutzende von kleinen und größeren Initiativen in Deutschland, die sich für die Unterprivilegierten in Indien einsetzen. Schulen, landwirtschaftliche Projekte, Krankenhäuser, Slum- und Dorfentwicklungsprojekte entstehen. Mehr könnte getan werden, wenn sich die Regierung kooperativer verhielte.

Sie haben sich stets bemüht, Indien den Deutschen näherzubringen. Nach Jahrzehnten der Vermittlung: Wie fällt Ihre persönliche Bilanz aus?

Ich habe 30 Jahre lang regelmäßig für das Feuilleton der FAZ über indische Kultur und Gesellschaft geschrieben. Ich habe Radiosendungen gemacht, Vorträge und Lesungen aus meinen Büchern gehalten. Ich hoffe, es hat etwas bewirkt. Ich weiß es nicht. Die Zeitschrift „Meine Welt“ und Ihr Internetportal haben für ein kritisches Verständnis von Indien geworben. Hat es etwas bewirkt? Ich weiß es nicht. Unterstützt uns jemand, etwa von offizieller Seite oder aus der Wirtschaft? Wir machen weiter, weil unser Herz für den Dialog mit dem Besten Indiens brennt. Punkt!

Für messbar halte ich es nicht, aber ich glaube daran, dass es etwas bewirkt und so manches Leserfeedback bestätigt uns. Welche Zukunft sehen Sie für den interkulturellen Dialog – gerade zwischen Indien und Deutschland?

Wir müssen die gesamte Palette des kulturellen Lebens in Indien in den Blick bekommen. Seine reiche Literatur, sein differenziertes gesellschaftliche Leben, seine Dorfkultur, das erstaunliche kulturelle Leben der Stämme und der Bergvölker. Wir sollten nicht nur an Klischees kleben. Indien ist mehr als Elefanten, Schlangenbeschwörer und Mugalpaläste.

Ohne Zweifel.

… und ich verspreche eine reiche persönliche Ernte, wenn wir uns auf die indische Philosophie einlassen, zum Beispiel was ich in meiner Autobiographie unter drei Stichworten zusammenfasse: „Unity in Diversity“, „Perspektivismus“ und „Religion als Spiel“. Wer sich dergestalt auf Indien einlässt, hat die Chance, sein Leben zu verändern, dessen Bewusstsein erweitert sich. Der betrachtet sein eigenes Leben mit neuem Erstaunen.

Dies bringt mich zur nächsten Generation bzw. wenn Sie einer jungen Generation in Deutschland (und Indien) etwas mit auf den Weg geben dürften – was wäre das?

Ich würde ihnen sagen: Glaubt nicht, eine Touri-Reise durch Indien würde euch das Land erschließen. Ihr könnt euch an seiner Vitalität erfreuen, ihr erlebt mit Erschrecken die Armut und das Elend in den Städten. Aber ihr bleibt Voyeure. Gewinnt Freunde unter der jungen Bevölkerung, verbringt ein paar Monate als Mitarbeiter in einem Dorfprojekt, nehmt ernst, was ihr macht. Bringt euch ein, wo immer ihr seid. Seid ehrlich mit euch selbst. Lest viel, auch meine Bücher. Denkt darüber nach, was diese Lektüre und eure Besuche in Indien mit eurem Leben tun könnten, tun sollten.

Schlusswort: Welche Werte, Einsichten oder vielleicht auch Zweifel möchten Sie teilen?

Meine Zweifel beziehen sich darauf, dass die Jugend glaubt, das Handy und das Fernsehen würde ihnen schon die ganze Welt zeigen. Weit gefehlt! Kommt in Indien an und spürt mit allen Sinnen und Gefühlen, wie sich eine neue Welt vor euch entfaltet.

Besser können wir nicht abschließen. Vielen Dank für Ihre Zeit und weiterhin alles Gute.


Weitere Buchtipps über Martin Kämpchen:

Anlässlich seines 75. Geburtstags erzählt Martin Kämpchen in seiner Autobiografie „Mein Leben in Indien“ von einem außergewöhnlichen Leben in Indien, das von kulturellem Dialog, Spiritualität und sozialem Engagement geprägt ist. Als renommierter Tagore-Übersetzer, Religionswissenschaftler und langjähriger Indien-Korrespondent gewährt er dabei einen einzigartigen Einblick in die indische Gesellschaft aus unmittelbarer Nähe. Link zum Verlag: https://shop.verlagsgruppe-patmos.de/mein-leben-in-indien-011368.html

Indien rückt immer stärker ins globale Rampenlicht – doch wer das Land wirklich verstehen will, braucht mehr als Schlagzeilen. Nach 50 Jahren gelebtem Alltag in Indien vermittelt Martin Kämpchen in lebendigen Beobachtungen, wie das Land denkt, fühlt und lebt – und öffnet so den Blick für seine kulturelle Tiefe in seinem Buch „Der Duft des Göttlichen“. Link zum Verlag: https://shop.verlagsgruppe-patmos.de/der-duft-des-goettlichen-011574.html

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