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Heike Oberlin: „Mut zur Neugier“

Foto: (c) H. Oberlin

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Frau Oberlin, wenn Sie auf die lange Geschichte der Indologie in Deutschland blicken – von Tagores Besuch über die Nachkriegszeit bis heute: Welche Gedanken gehen Ihnen durch den Kopf, wenn Sie diese Entwicklung mit Ihrem eigenen Weg verbinden?

Die deutschsprachige Indologie hat sich vom romantisch-idealisierenden Zugang des 18./19. Jahrhunderts (sichtbar auch in der Tagore-Resonanz) über philologische Strenge und institutionelle Konsolidierung im 20. Jahrhundert hin zu einer Öffnung für kultur-, sozial-und performanzorientierte Ansätze seit den 1970er Jahren entwickelt. Diese historische Breite ist eine Besonderheit des Faches und ermöglicht es, auf philologischem Fundament sowohl Kontinuitäten und Brüche als auch aktuelle Strömungen und Diskurse, etwa in der Politik, in den Blick zu nehmen.

Mein eigener Weg spiegelt diese Entwicklung: Ausgangspunkt war die Faszination für eine „neue, alte“ Gedankenwelt, die sich mir über Bharatanāṭyameröffnete. Während des Studiums lernte ich Kūṭiyāṭṭamkennen und vertiefte mich durch intensives Sprachstudium in Tübingen und einen mehrjährigen Aufenthalt in Kerala in Theorie und Praxis dieser alten Theatertradition. Dabei erlebte ich, dass Verständnis immer im Wandel ist – eine prägende Erfahrung. Philologische Genauigkeit bleibt für mich Fundament, doch entscheidend ist die ständige Reflexion der eigenen Rolle im Wechselspiel von Wissenschaft, Kunst und persönlichen Begegnungen. Heute gebe ich diese Erfahrungen weiter und lasse sie mir im Austausch mit meinen Doktorand:innen aus Indien spiegeln: als gemeinsame Arbeit an Text, Praxis und Theorie, die Wissensproduktion als kooperative, situiert-kritische Praxis versteht. So erscheint mir die Indologie weniger als Hüterin eines Kanons, sondern als dialogische Mittlerin zwischen Überlieferung und Gegenwart.

Die Fachgeschichte zeigt, dass einige Indologen nach dem 2. Weltkrieg einst dem NS-Regime nahestanden (Lutz, Alsdorf, Heine, Wüst, Waldschmidt, Frauwallner). Wie gelingt es der Indologie in Deutschland, mit diesem Erbe umzugehen – und dennoch eine positive, offene Brücke nach Indien zu schlagen?

Es gehört zur Ehrlichkeit des Fachs, sich auch seinenSchattenseiten zu stellen: dass einzelne Indologen nach 1945 ihre Nähe zum NS-Regime nicht aufgearbeitet haben, sondern, teilweise sogar in den Institutionen, weiterwirkten. Heute wird diese Verstrickung kritisch erforscht und offen benannt – auch in der Lehre. Gerade dadurch hat sich ein neues Selbstverständnis entwickelt: Indologie ist eben nicht mehr Hüterin eines vermeintlich „reinen“ Kanons, sondern versteht sich als reflektierte, philologisch fundierte Kulturwissenschaft. Für mich heißt das, Verantwortung aus der Vergangenheit anzunehmen und zugleich Brücken in die Gegenwart zu bauen – etwa durch meine Arbeit in Kerala oder im Dialog mit meinen Doktorand:innen aus Indien. So kann aus der kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte eine Basis entstehen, die Begegnung auf Augenhöhe ermöglicht.

Sie sprechen oft von der Indologie als Möglichkeit zur Völkerverständigung. Wann haben Sie ganz konkret gespürt, dass Ihre Arbeit Menschen aus Indien und Deutschland näher zusammenbringt?

Am deutlichsten spüre ich es in der Arbeit mit meinen Doktorandinnen und Doktoranden aus Indien: Ich habe in Kerala gelebt und studiert, sie tun es nun in Tübingen. Unsere gemeinsame Basis ist die wissenschaftliche und künstlerische Arbeit, zugleich aber auch die Erfahrung, einer anderen Sprache und Kultur vertieft zu begegnen – und sich dabei selbst zu verändern. Sehr konkret wurde „Völkerverständigung“ auch durch meine über 30-jährige Arbeit in der Deutsch-Indischen Kulturgesellschaft e.V. Tübingen gelebt, mit unzähligen Konzerten, Tanzaufführungen, Workshops und Lesungen, bei denen Menschen aus beiden Kulturen einander neugierig und respektvoll begegnet sind.

Malayalam zu lernen ist eine große Herausforderung. Gab es Momente, in denen Sie daran zweifelten – und was hat Ihnen die Kraft gegeben, dranzubleiben? Was bedeutet Ihnen diese Sprache heute im persönlichenwie im beruflichen Leben?

Es gab viele Zweifel-Momente: die dravidische Morphologie, die vielfachen Soziolekte und Dialekte neben der Hochsprache. Geholfen habt mir vor allem das „Sprachbad“ im ländlichen Kerala, in dem ich zwei Jahre ohne Unterbrechung lebte. Und, neben geduldigen Lehrer:innen, die langen, auf Malayalam verfassten Kommentartexte des Kūṭiyāṭṭam-Theaters, die auf der Bühne Wort für Wort in Handgesten umgesetzt werden, samt Handzeichen für grammatikalische Endungen wie Kasus oder Numerus. Heute bedeutet mir Malayalam persönlich Nähe: Es erschließt Humor, Höflichkeitsnuancen und die feinen Register des Alltags; ich denke in manchen Situationen in Malayalam und erfahre Beziehungen weniger vermittelt. Beruflich ist es der Schlüssel zur Bühne und zum Archiv: Ich kann VidūṣakaPassagen, Probenanweisungen und Diskussionen im Kūṭiyāṭṭam ohne Filter hören, Interviews führen, Programmhefte und lokale Forschung lesen, in Archiven arbeiten – und vor allem Vertrauen aufbauen. Sprache ist hier nicht nur Werkzeug, sondern Beziehungsarbeit: Sie verschiebt die Rolle von der externen Beobachterin zur Partnerin im Gespräch. Gerade deshalb war das Dranbleiben die Mühe wert.

Sie haben das genannte Sanskrittheater Kūṭiyāṭṭam (Foto) nicht nur erforscht, sondern selbst auf der Bühne praktiziert. Was hat diese Erfahrung mit Ihnen als Mensch gemacht – vielleicht auch jenseits der Wissenschaft?

Die Praxis des Kūṭiyāṭṭam auf der Bühne hat mir eine Erfahrung ermöglicht, die weit über die wissenschaftliche Analyse hinausreicht. Vor allem durch meine Lehrerinnen und Lehrer, die mich mit großer Geduld in eine jahrhundertealte Kunst eingeführt haben, habe ich gelernt, dass Wissen nicht allein aus Texten oder Theorien erwächst, sondern im „Erleben“, im gemeinsamen Tun, im strengen Training und im Schweigen zwischen den Übungen weitergegeben wird. In dieser körperlich-stimmlichen Schulung – in den Augenbewegungen, den Gesten, dem Rezitieren von Text– lag eine Lektion in Geduld, Achtsamkeit und Demut: nicht ich stehe im Mittelpunkt, sondern die Tradition, in die ich für einen Moment eintreten darf. Diese Lernerfahrung hat mich auch menschlich geprägt: Sie hat mir gezeigt, wie Wissenschaft, Kunst und persönliche Begegnung unauflöslich ineinandergreifen. Ich habe begonnen, meine eigene Rolle nicht mehr als distanzierte Beobachterin, sondern als dialogische Mitspielerin zu begreifen, die Verantwortung trägt, das Empfangene respektvoll weiterzugeben. So sind meine Lehrer:innennicht nur künstlerische Vorbilder geblieben, sondern auch lebendige Maßstäbe für das Ethos einer Forschung, die Tradition nicht vereinnahmt, sondern in gegenseitigem Respekt übersetzt und weiterträgt.

Wenn Sie heute sehen, wie digitale Technologien die Geisteswissenschaften verändern: Was inspiriert Sie daran, und wo erleben Sie, dass es neue Möglichkeiten gibt, indische Kultur lebendig zu halten?

Mich inspiriert, dass digitale Technologien Zugänge schaffen, die früher undenkbar waren: Handschriften, Aufführungen oder Archive lassen sich heute global mit anderen teilen und erforschen, ohne an einen Ort gebunden zu sein (wie etwa das Tübinger „Gundert-Portal“: https://gundert-portal.de). Für die indische Kultur bedeutet das, dass seltene Traditionen wie das Kūṭiyāṭṭam-Theater dokumentiert, kommentiert und einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden können – ohne sie auf bloße „Musealisierung“ zu reduzieren. Entscheidend ist für mich die Balance: Digitalität bewahrt und vermittelt, aber sie ersetzt nicht die leibhaftige Erfahrung von Sprache, Kunst und Begegnung. Im besten Fall ergänzen sich beides – die digitale Reichweite und die lokale, körperliche Präsenz – zu einer lebendigen Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Ost und West.

Wenn Sie an die kommenden 25 Jahre denken: Was wünschen Sie sich – für Ihr Fach, für die Verbindung von Indien und Deutschland, und vielleicht auch für die jungen Menschen, die in Ihre Fußstapfen treten möchten?

Ich wünsche mir, dass die Indologie als Fach weiterbesteht (heutzutage leider keine Selbstverständlichkeit) und sich idealerweise sogar ausweitet, damit das Wissen über indische Sprachen und die vielfältige Gesellschaft des Subkontinents erhalten bleibt und Studierende auch in Zukunft Brücken zwischen Wissenschaft, Kunst und Kulturen zu schlagen lernen. Dabei sollte sie ihre philologische Tiefe bewahren, denn das ist ihr Handwerkszeug. Ich hoffe auf einen lebendigen Dialog zwischen Deutschland und Indien, in dem Traditionen wie etwa das Kūṭiyāṭṭam-Theater und seine Einbettung in historische, soziokulturelle Kontexte nicht nur erforscht, sondern auch erlebt und weitergegeben werden. Den zukünftigen Studierenden wünsche ich Mut zur Neugier, Geduld beim Lernen und die Offenheit, Wissenschaft, Kunst und persönliche Begegnung als untrennbares Ganzes zu begreifen.

Herzlichen Dank!


Link: Prof. Dr. Heike Oberlin – Universität Tübingen

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