Die Todesstrafe für Sheikh Hasina erschüttert Bangladeschs politische Landschaft – und stellt Indien vor ein diplomatisches Dilemma. Die deutsche Bundesregierung spricht sich gegen eine Todesstrafe aus. Neu-Delhi wird die ehemalige Premierministerin kaum ausliefern, doch wie hoch wird der Preis dafür sein? Eine aktuelle Analyse.
Die Verurteilung der früheren bangladeschischen Premierministerin Sheikh Hasina durch das Internationale Verbrechertribunal in Dhaka markiert einen historischen Einschnitt. Erstmals steht eine langjährige Regierungschefin des Landes wegen „crimes against humanity“ am Pranger, nachdem studentische Proteste 2024 in eine landesweite Welle staatlicher Gewalt mündeten. Bis zu 1.400 Menschen verloren ihr Leben – unter ihnen auch zahlreiche Kinder und Jugendliche. Für viele Familien bleibt die Aufarbeitung dieser Ereignisse schmerzhaft unvollständig. Während in Dhaka Teile der Bevölkerung das Urteil als späte Genugtuung feiern, sitzt die 78-Jährige im Exil in Neu-Delhi – und dort wird sie bleiben.
Indien verweist offiziell auf Zurückhaltung, nimmt „den Richterspruch zur Kenntnis“ und verspricht Gespräche „mit allen Stakeholdern“. Hinter dieser Formel steckt jedoch eine klare Abwägung. Die Auslieferung einer langjährigen Partnerin – und für Neu-Delhi zentralen Stabilitätsfigur – an ein Verfahren, das in Abwesenheit geführt wurde und mit der Todesstrafe endete, wäre ein drastischer Schritt. Hinzu kommt ein formaler Aspekt: Der bilaterale Auslieferungsvertrag erlaubt Ausnahmen bei politisch motivierten Delikten. Die indische Regierung betrachtet den Prozess gegen Hasina offenkundig durch genau diese Linse – auch wenn der Vorwurf staatlicher Gewalt gegen unbewaffnete Demonstrierende, darunter viele Minderjährige, weit über ein bloß politisches Vergehen hinausreicht.
Politische Motive und geopolitische Realitäten
Seit Hasinas Sturz hat Bangladesch eine abrupte politische Kehrtwende erlebt. Die Übergangsregierung unter Muhammad Yunus verfolgt aus indischer Sicht einen hart anti-indischen Kurs und fordert vehement ihre Auslieferung – während sie gleichzeitig die Annäherung an Pakistan sucht. Indien würde durch eine Übergabe Hasinas nicht nur eine ehemalige Verbündete aufgeben, sondern auch Kräfte stärken, die Neu-Delhi öffentlich kritisieren und zugleich den Tod Hunderter junger Demonstrierender politisch instrumentalisieren. Strategisch wäre dies für Indien kaum vermittelbar.
Doch Neu-Delhi handelt nicht allein aus Loyalität. Der Fall berührt zentrale Interessen: Stabilität an der Ostgrenze, die Eindämmung chinesischen Einflusses in Bangladesch und die Kontrolle über Migrationsbewegungen. Unter Hasina waren die Beziehungen eng und berechenbar – sicherheitspolitisch wie wirtschaftlich. Eine abrupte Distanzierung würde Indien langfristig schwächen, unabhängig von der Frage eines einzelnen Auslieferungsersuchens.
Eine fragile Nachbarschaft
Die bilateralen Beziehungen sind seit 2024 deutlich abgekühlt. Das über Jahre gewachsene Vertrauensverhältnis ist schwer beschädigt – nicht nur durch geopolitische Gegensätze, sondern auch durch die unbewältigten Menschenrechtsverletzungen des vergangenen Jahres. Während der Handel weiterläuft, dominiert politisches Misstrauen. Solange Dhaka die Rückgabe Hasinas zur zentralen Forderung erhebt, bleibt kaum Raum für Entspannung.
Indien weiß jedoch, dass die aktuelle Übergangsregierung nur eine Zwischenphase darstellt. Die für Februar angesetzten Wahlen – von denen die Awami League ausgeschlossen bleibt – könnten eine völlig neue Konstellation hervorbringen. Neu-Delhi wird versuchen, Kontakte in alle Richtungen zu pflegen. Dass man sich über Jahre fast ausschließlich auf die Awami League stützte, gilt in Indien inzwischen selbst als strategische Engführung.
Der Faktor Hasina: Risiko oder Kapital?
Hasina ist für Indien mehr als eine ehemalige Regierungschefin. Ihre Biografie – geprägt von politischer Verfolgung, Exil in Neu-Delhi und intensiver sicherheitspolitischer Kooperation – schafft emotionale und strategische Bindungen. Für Indien bleibt sie eine potenzielle Zukunftsfigur in der bangladeschischen Politik. In Südasien verschwinden Parteien mit dynastischen Traditionen selten dauerhaft von der Bildfläche. Der Awami League könnte mittel- bis langfristig eine neue Rolle zukommen – ob in der Regierung oder in der Opposition.
Ihre Anwesenheit in Indien ist daher doppeldeutig: Sie verschärft die Spannungen mit der Übergangsregierung, ist aber zugleich ein politisches Pfand, das Neu-Delhi nicht leichtfertig aufgeben wird. Auch bleibt unklar, inwieweit die bangladeschische Justiz unabhängig agierte – oder ob ein Teil der gesellschaftlichen Wut über die 1.400 Toten, darunter viele Kinder, in ein Verfahren kanalisiert wurde, das juristisch wie politisch umstritten ist.
Nüchterne Perspektive
Indien wird Sheikh Hasina nicht ausliefern – weder aus juristischen noch aus geopolitischen Gründen. Dhaka wird dies als Provokation interpretieren. Die Übergangsregierung wird den Schritt als Legitimationsproblem Indiens darstellen, während zugleich die Opfer der Gewalt von 2024 weiter auf umfassende Aufklärung warten. Die diplomatische Debatte droht dadurch die eigentliche Tragödie in den Hintergrund zu drängen.
Kurzfristig bleibt das Verhältnis frostig – vermutlich bis zu den Wahlen in Bangladesch. Für Indien bedeutet dies eine Politik des Abwartens: Sicherung eigener Interessen, Pflege diskreter Kanäle und Vermeidung weiterer Eskalation. Für Dhaka bleibt die Forderung nach Hasinas Auslieferung ein innenpolitisches Symbol, das jedoch weder Indien noch die geopolitische Realität erzwingen wird.
Die Zukunft der bilateralen Beziehungen hängt weniger von einem einzelnen Auslieferungsersuchen ab, sondern davon, ob es Bangladesch gelingt, die Ereignisse von 2024 – und die hohe Zahl getöteter junger Menschen – glaubwürdig aufzuarbeiten. Ohne diese Auseinandersetzung wird jede politische Stabilität brüchig bleiben.
Weiterführende Quellen:
- „Sheikh Hasina is not scared of her death sentence order by Bangladesh court and challenging the power of Muhammad Yunus“, Ananda Bazar Patrika, 18.11.2025
- „Why India likely won’t return Hasina to face Bangladesh death penalty“, Al Jazeera, 18.11.2025
- „Bangladesh’s ousted leader Sheikh Hasina sentenced to death after crimes against humanity conviction“, CNN World, 18.11.2025
- „Bangladesh seeks Sheikh Hasina handover; India breaks silence on verdict“, The Economic Times, 17.11.2025
- „What after Bangladesh’s death sentence for Hasina?“, The Statesman, 18.11.2025
- „Erklärungen des Auswärtigen Amts in der Regierungspressekonferenz vom 17.11.2025“, Auswärtiges Amt, 18.11.2025
