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Di, 19. März, 2024
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„Christentum und Kastenwesen“ von Jürgen Stein

(von Jürgen Stein) Durch die Untersuchung der Sozialgeschichte und der gegenwärtigen Alltagswirklichkeit der indischen Christen konnte gezeigt werden, dass eine einseitig religionistische Deutung des indischen Kastenwesens als eine hinduspezifische Gesellschaftsform höchst problematisch ist. Die indischen Christen haben sich nämlich als Angehörige von Geburts-, Ritual- und Solidargemeinschaften erwiesen, auf die sich der Begriff der Kaste nach einem Vergleich mit den Merkmalen von Hindu-Kasten ohne Einschränkung anwenden ließ. Diese christlichen Kasten sind Bestandteil einer religionsunabhängigen Kastengesellschaft mit je eigener regionaler Prägung. Die Christen stellen dabei keineswegs nur gegenüber Nichtchristen kastenhierarchische Bezüge her, sondern auch untereinander, sofern der jeweilige soziale Raum christliche Kasten aus unterschiedlichen sozialen Schichten umfasst.

Die christlichen Kasten sind im Wesentlichen dadurch entstanden, dass Teilgruppen von nichtchristlichen, insbesondere Hindu-Kasten vor allem während des 19. und zu Beginn des 20. Jh. kollektiv zum Christentum konvertierten und damit getrennte Ritualgemeinschaften entstanden, wodurch die Kastensolidarität geschwächt wurde. Der Ablösungsprozess der Konvertiten von der Ursprungskaste erstreckte sich allerdings über viele Generationen und ist in einigen Fällen bis heute nicht abgeschlossen, was an der noch immer sozial tolerierten Möglichkeit zur Schließung religionsübergreifender Ehen von Mitgliedern der gleichen Ursprungskaste erkennbar ist. Die Entwicklung hin zu endogamen christlichen Kasten wurde von den Missionaren allerdings oftmals dadurch beschleunigt, dass sie religionsübergreifende Ehen explizit untersagten.

Neben den Konversionsbewegungen von Teilgruppen nichtchristlicher Kasten ereigneten sich aber gelegentlich auch Individualkonversionen, zumeist von Angehörigen höherrangiger Kasten. Diese Individualkonvertiten, die fast ausschließlich im urbanen Raum lebten, wurden in der Regel aus ihrer Kaste ausgeschlossen und mussten deshalb neue Ehepraktiken entwickeln. Einige schlossen daraufhin Ehen mit in Indien lebenden Briten, die Mehrheit heiratete jedoch innerhalb der Gruppe der Individualkonvertiten selbst. Für spätere Generationen war es allerdings in vielen Fällen wieder möglich, in die nichtchristliche Herkunftskaste der patrilinearen Linie zurück zu heiraten. Aus diesem Grund kann hier nicht von der Entstehung einer urbanen christlichen Kaste gesprochen werden. Dies hat auch eine Analyse des Heiratsverhaltens im urbanen Raum bestätigt, bei der eine große Flexibilität zu Tage getreten ist. So können in dieser Schicht Kriterien wie Einkommen, Beruf und Bildung oft Vorrang vor der Kasten- und auch der Religionszugehörigkeit besitzen. Die allmähliche Aufgabe des Kastenverhaltens in der urbanen Mittelschicht ist aber nicht nur für Christen, sondern auch für die Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften charakteristisch.

Aufgrund der Religionsunabhängigkeit des Kastenwesens ist es nicht verwunderlich, dass sich im ländlichen Raum die soziale Stellung von Christen aus den untersten Kasten der ehemaligen Unberührbaren, die sich heute als Dalits bezeichnen, nicht grundsätzlich verändert hat. Sowohl die hochkastigen Nichtchristen als auch die Christen wahren zu den Dalits jedweder Religion weiterhin Distanz im sozialen Alltag, zudem sind die Dalits ökonomischer Ausbeutung und zum Teil auch physischer Gewalt durch die höherrangigen Kasten ausgesetzt. Die Gleichbehandlung der christlichen und nichtchristlichen Dalits zeigt, dass sie in ihrem gesellschaftlichen Umfeld nach ihrer Kaste und nicht nach ihrer Religion beurteilt werden. Dieser Punkt ist für die Bewertung von sozialen Konflikten zwischen den Angehörigen verschiedener Religionsgemeinschaften in Indien von besonderer Bedeutung, da er deutlich macht, dass solche Konflikte nicht zwangsläufig genuin religiöse Ursachen haben müssen, sondern in vielen Fällen die Folge der lokalen sozial-ökonomischen Verhältnisse sind.

Da die Kaste auch Ritualgemeinschaft ist, lassen sich die christlichen Kasten in der Regel einer bestimmten Konfession zuordnen. Allerdings sind die konfessionellen Bindungen den Verpflichtungen gegenüber der Kaste eindeutig nachgeordnet. So ist eine Eheschließung mit einem Angehörigen der eigenen Kaste über Konfessionsgrenzen hinweg problemlos möglich, während umgekehrt eine Ehe über Kastengrenzen hinweg selbst dann ausgeschlossen ist, wenn der fragliche Partner der gleichen Konfession angehört.

Durch den sozialgeschichtlichen Überblick konnte in der Dissertation zudem gezeigt werden, dass die indischen Christen auch in der Vergangenheit zu jeder Zeit der Kastengesellschaft zugehörig waren. Dies gilt selbst für die britische Kolonialzeit, als westliche Missionare dem Kastenwesen eine christliche Gleichheitsethik entgegenzustellen versuchten. Diese Ethik war zwar sicherlich ein wichtiges Konversionsmotiv für Dalits, da sie damit geistige Mittel zu einer bewusstseinsmäßigen Emanzipation an die Hand bekamen, in den Interaktionen mit höherrangigen Kasten konnten sie dieser Ethik aufgrund der sozial-ökonomischen Verhältnisse allerdings kaum Geltung verschaffen. Später wurde diese Gleichheitsethik dann vor allem von der Minderheit der hochkastigen Christen aufgegriffen, um das Bild einer egalitären und kastenfreien Gemeinschaft zeichnen zu können. Damit versuchen die hochkastigen Christen ihr Machtmonopol in den indischen Kirchen zu verbergen, das sie bis in die Gegenwart hinein wahren konnten. Die unterlegene gesellschaftliche Stellung der christlichen Dalits findet somit auch auf kirchlicher Ebene ihre Entsprechung.

Durch einen Religionswechsel zum Christentum verändern sich also weder die Grundsätze des eigenen Kastenverhaltens noch ändert sich die Behandlung der christlichen Gruppen durch das gesellschaftliche Umfeld. Die Behauptung von der Kastenfreiheit der indischen Christen muss daher als ideologische Aussage gewertet werden, auf der Ebene der Alltagswirklichkeit ist sie jedoch nicht länger haltbar.

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