theinder.net – 25 Jahre Indien-Portal für Deutschland – 25 Years Germany's Premier NRI Portal – २५ वर्षों से जर्मनी का प्रमुख भारत संबंधी वेबसाइट

Mi., 22. Oktober, 2025
spot_img
StartSonderteile25 Jahre theinder.netMithu Sanyal: Identität als notwendige Lüge

Mithu Sanyal: Identität als notwendige Lüge

(Click here for English version)

Mithu Sanyal, geboren 1971 in Düsseldorf, ist Kulturwissenschaftlerin, Schriftstellerin und Journalistin. Mit Witz, Scharfsinn und überraschenden Perspektiven erkundet sie in ihren Werken – geprägt von ihrem halb-indischen Hintergrund – die Verflechtungen von Identität, Kolonialismus, Rassismus, Geschlecht und Macht. Mit uns spricht sie über fluide Identitäten im vorkolonialen Indien, über die Tendenz moderner Debatten, sich auf die dysfunktionalsten Aspekte zu fixieren, und darüber, warum „weiß“ und „schwarz“ soziale Konstrukte sind. Sie erklärt, welche Vorteile „Braunsein mit Doktortitel“ hat, wie Sprache gesellschaftliche Veränderung erst denkbar macht, warum Hindu-Nationalismus als Reaktion auf den britischen Kolonialismus entstand – und verrät, worum es in ihrem nächsten Roman gehen wird.
Quelle: Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, Deutschland, CC BY-SA 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0, via Wikimedia Commons

Frau Sanyal, Das Thema Identität wird in der indischen Kultur seit jeher auf vielschichtige Weise aufgearbeitet. In der buddhistischen Lehre heißt es: „sabbe dhammā anattā“ – alle Dinge sind ohne Selbst, also ohne Identität. Im berühmten Sufi-Gedicht „Chhāp Tilak“ von Amir Khusro geht es darum, dass das Rendezvous mit dem Göttlichen die Identität auf befreiende Weise auflöst. Im Advaita Vedānta wird die Trennung der Welt in verschiedene Identitäten als Illusion beschrieben.
Im modernen Westen hingegen gilt Identität als etwas, das man finden, kultivieren und verteidigen soll. Wer hat recht?

Ich bin natürlich auf der Seite der traditionellen indischen Kultur. Denn das ist ja auch das Problem mit dem Westen – dass er seine Identitätskonzepte so erfolgreich exportiert hat. In meinem Roman „Antichristie“ geht es unter anderem darum, dass es Identität auf Basis von Religion in dieser Form in Indien gar nicht gegeben hatte, bis die Briten kamen und sie 1858 nach dem ersten indischen Unabhängigkeitskrieg festschrieben. Menschen konnten vorher gleichzeitig Hindus und Muslime sein, und es war überhaupt kein Problem. Zu sagen: „Ich bin Hindu und Katholikin“, war kein Widerspruch. Aber die Briten fanden es sehr wichtig, Hindus und Muslime gegeneinander auszuspielen. Dafür mussten sie den Menschen erst erklären, dass sie verschiedene Identitäten haben, die sich gegenseitig ausschließen und in absolutem Widerspruch zueinander stehen. Daher wurde im Jahr nach dem ersten indischen Unabhängigkeitskrieg, also 1858, der erste Zensus durchgeführt, in dem die Leute ankreuzen mussten, ob sie Hindus oder Muslime sind. 

In Ihren Büchern „Identitti“ und „Antichristie“  gehen Sie mit dem Thema Identität spielerisch, zuweilen tragisch, aber auch humorvoll um.
Sollten wir unsere Identität weniger ernst nehmen?

Ich liebe den Philosophen Kwame Anthony Appiah, der ein Buch geschrieben hat mit dem Titel „The Lies That Bind: Rethinking Identity“. Auf Deutsch heißt es „Identitäten“, aber die richtige Übersetzung wäre wahrscheinlich, dass Identitäten „notwendige Lügen“ sind.

Es ist tatsächlich so, dass Menschen es offensichtlich brauchen, andere Menschen – und überhaupt Dinge in der Welt – einordnen zu können. Identitäten sind für uns also durchaus wichtig, allerdings nicht in dieser exklusiven, ausschließenden Form, in der wir heute mit ihnen umgehen. Und offensichtlich ist es so, dass, wenn wir sagen: „Es gibt keine Identitäten“ oder „Ich sehe Identitäten nicht“, sich Identitäten nicht auflösen, sondern der Status quo einfach nur erhalten bleibt.

Das heißt: Um Identitäten unterlaufen zu können oder auf Diskriminierungen aufmerksam machen zu können, die uns aufgrund unserer Identitäten widerfahren – ein anderer Aspekt, auf den Kwame Anthony Appiah hinweist, ist nämlich, dass Identitäten weniger bestimmen, was wir tun, sondern vielmehr, was Menschen uns antun –, müssen wir auf diese Identitäten verweisen, womit wir sie dann in gewisser Form wieder festschreiben. Das ist ein Problem, aus dem wir nicht herauskommen.

    Deshalb bin ich immer dafür, Identitäten so weit wie möglich und so durchlässig wie möglich zu gestalten. Aber an dem Punkt, an dem wir im Moment sind, werden wir nicht komplett aus diesem Spiel herauskommen.

    Was bedeutet „Cultural Appropriation“?
    Warum ist es problematisch, wenn weiße Menschen Yoga machen, aber unproblematisch, wenn indische Menschen morgens im Anzug ins Büro fahren – oder andere Dinge tun, die aus der „weißen“ Kultur stammen?

    Das fängt ja schon mit dem Begriff an: Das Problem ist das Wort „cultural“ – also: Was sind Kulturen? Kulturen sind eben nicht ausschließlich, sondern Kulturen haben sich schon immer durchdrungen. Und was ist „appropriation“? Wann nimmt man anderen etwas weg, und was wäre dann das Gegenkonzept dazu – also: Was wäre cultural „appreciation“? Das sind alles sehr, sehr schwierige Konzepte.

    Warum ich die Debatten um „Cultural Appropriation“ notwendigerweise falsch, aber nicht ganz unproduktiv fand, war, dass in den Debatten, in denen wir leben, ganz lange „weiß“ als universell galt. Der Gedanke war: weiße Menschen konnten alles machen – alle Rollen spielen, für alle sprechen und so weiter, während in irgendeiner Form markierte Menschen nur für sich selbst sprechen konnten. Mit „Cultural Appropriation“ wurde eigentlich auf dieses hierarchische Verhältnis hingewiesen.

    Der Begriff war ja ursprünglich nicht „Cultural Appropriation“, sondern „Cultural Colonialism“, als er in den 1970er-Jahren geprägt wurde. Und damit wurde auf Fragen hingewiesen wie: Warum gehen Menschen aus Europa in andere Länder und melden dort Patente auf Pflanzen oder auf Medizin an, die Menschen dort schon immer verwendet haben? Und jetzt dürfen sie diese Medizin nicht mehr verwenden, weil sie vermarktet wird und so weiter.

      Das sind ganz wichtige Dinge. Wenn wir auf die Debatte in Deutschland schauen, blicken wir häufig auf die dysfunktionalsten Aspekte – zum Beispiel, wenn wir sagen: „Yoga ist Cultural Appropriation.“ Da wird es natürlich ganz, ganz schwierig. Denn wem gehört Yoga? Was aber gleichzeitig stimmt, ist, dass es sehr viele „schräge“ Formen der Aneignung gibt – und dass es gut wäre, wenn wir uns Gedanken darüber machen, wie wir respektvoll mit dem umgehen können, mit dem wir selbst nicht aufgewachsen sind. Nur, dafür haben wir leider überhaupt kein Konzept.

      Worüber wir auch reden sollten, ist der finanzielle Aspekt: Wer verdient Geld damit? Das klassische Beispiel wäre jemand wie Elvis Presley, der sich ja sehr stark an verschiedenen schwarzen Musiktraditionen bedient hat – was auch total toll und wichtig ist. Aber er hat das Geld bekommen, während die Leute, die seinen Stil massiv mitgeprägt haben, weitgehend leer ausgegangen sind.
      Das heißt, in einem kapitalistischen System hat „Cultural Appropriation“ eben auch etwas damit zu tun, wer für Dinge bezahlt wird – und wer nicht. Also: Wer bekommt die Anerkennung für etwas, und wer bekommt sie eben nicht?

      Und ganz häufig ist eben nicht die Frage, wer etwas nicht machen darf, sondern dass wir darauf hinweisen sollten, wo Dinge herkommen – dass wir Ressourcen fair verteilen müssen, dass wir Anerkennung geben müssen, dass wir auch Copyright einfach klar und fair zuweisen müssen.

      Ist „weiß“ eher ein kultureller Algorithmus als eine Hautfarbe?
      Sind braune Menschen, die unter weißen Deutschen aufgewachsen sind, in diesem Sinne selbst „weiß“?

      (Schmunzelt) Eine sehr gute Frage. Also: „weiß“ ist natürlich genauso wenig wie „schwarz“ oder „braun“ eine Hautfarbe. Es sind soziale Konstrukte.

      Dass „schwarz“ ein soziales Konstrukt ist, haben Aktivistinnen und Aktivisten ja dekonstruiert; deshalb schreiben wir in der Regel „Schwarz“ auch groß, um darauf hinzuweisen, dass es ein soziales Konstrukt ist. Denn viele Menschen, die als „schwarz“ gelten, haben natürlich überhaupt keine schwarze Hautfarbe – da gibt es ja unglaublich große Unterschiede. Wir verweisen damit aber auf einen sozialen Status. Und genauso ist es mit „weiß“ – „weiß“ ist ebenfalls konstruiert.

      Ganz lange haben sich die Menschen überhaupt nicht über Hautfarbe definiert. Sie haben sich natürlich von anderen Leuten unterschieden, aber das war dann entweder durch ihr Land, ihre Sprache oder ihre Religion.

        „Weiß“ als race wurde erfunden, um „schwarz“ als race erfinden zu können, um den transatlantischen Sklavenhandel rechtfertigen zu können, um sagen zu können, dass es in Ordnung ist, diese Menschen auszubeuten und zu unterdrücken, sie zu „versklaven“ oder zu Sklaven zu erklären – was eigentlich nicht möglich ist, denn diese Menschen sind ja nicht wesenhaft Sklaven.

        Das wurde durch die Erfindung der „schwarzen“ race gerechtfertigt, und dafür musste man eine „weiße“ race erfinden. Diese ist dann aber unsichtbar geworden, weil „weiß“ als die Norm galt.

        Dadurch haben sich Aktivistinnen und Aktivisten, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sehr an „schwarz“ abgearbeitet, um klarzumachen: „Halt! Das ist ein Konstrukt!“, dieses aber nicht in derselben Form für „weiß“ getan.

        Ich bin ja auch eine braune Person, die unter weißen Deutschen aufgewachsen ist, und ich verwende „Braun“ inzwischen auch als politische Beschreibung. Es ist eben nicht so, dass wir „in unserem Inneren“ weiß sind. Sondern „weiß“ und „schwarz“ und „braun“ – oder POC – haben ja immer ganz, ganz viel mit sozialer Positionierung zu tun. Und es ist tatsächlich so, dass ich in Deutschland niemals als Deutsche wahrgenommen wurde, sondern immer als „eigentlich nicht so richtig deutsch“. Markiert durch Fragen wie: „Wo kommst du her?“, die klarmachen, dass die eigentliche Frage war: „Warum bist du braun?“ Dabei bin ich natürlich in ganz vielen Punkten deutsch. Das merke ich vor allem, wenn ich in London bin und mir, wenn ich die Straße entlanggehe, die ganze Zeit denke: „Wann kommt eigentlich der nächste Papierkorb, warum haben die hier keine Mülleimer auf der Straße stehen?“
        Aber „weiß“ ist nichts Innerliches, sondern „weiß“ ist immer eine soziale Positionierung, die ich persönlich aufgrund von Hautfarbe, Phänotyp und Namen natürlich nicht habe.

        Gleichzeitig gibt es aber auch bei „braun“ und bei „schwarz“ massive Unterschiede. Auch da ist ja nicht „braun“ gleich „braun“. „Braunsein mit einem Doktortitel“, wie ich ihn inzwischen habe, wiegt zum Beispiel bei der Wohnungssuche das „Braunsein“ allein fast auf.

        Sprache ist niemals „Wahrheit“ und kann sie auch nicht ausdrücken.
        Inwiefern kann uns das Verwenden von anderen oder neuen Begriffen bzw. das Überführen bestehender Begriffe in neue Kontexte, ermöglichen, die Welt anders zu sehen oder Unsichtbares sichtbar zu machen?

        Zwei Sachen: Auf der einen Seite ist es so, dass das, wofür wir keine Sprache haben, für uns sehr, sehr schwer vorstellbar ist. Ich würde nicht sagen, es ist gar nicht vorstellbar, aber es ist für uns sehr, sehr schwer vorstellbar. Und: wir können vor allem schlecht mit anderen Menschen darüber kommunizieren. Insofern stellt Sprache natürlich auch die Wahrheit mit her – also das, was wir als geteilte Wirklichkeit wahrnehmen.

        Ein Beispiel: Als ich geboren wurde, war der Fachbegriff für Menschen wie mich „Ausländerin“. Dabei bin ich ja keine Ausländerin, denn ich bin hier in Deutschland geboren. Trotzdem haben wir Menschen, die de facto Deutsche waren, als Ausländerinnen bezeichnet. Ich hatte deshalb natürlich auch keinen deutschen Pass, weil das Gesetz es so vorgesehen hat, dass Kinder die Staatsangehörigkeit ihres Vaters bekommen haben und nicht die ihrer Mutter bekommen durften.

        Da ist Sprache ein Aspekt, die Wirklichkeit einzuteilen. Es hätte natürlich nicht gereicht, einfach eine andere Sprache zu finden. Aber: Mit einer anderen Sprache andere Dinge vorstellbar zu machen, war Teil des politischen Kampfes. Meine Mutter hat damals in der Interessengemeinschaft der mit Ausländern verheirateten Frauen (iaf) dafür gekämpft, dass deutsche Frauen ihren Kindern ihre deutsche Staatsangehörigkeit vererben können.

          1975 haben sie den Kampf gewonnen. Und ich kann mich daran erinnern – das ist wirklich meine allererste Erinnerung in meinem Leben –, diesen deutschen Pass zu haben und an die wahnsinnige Erleichterung meiner Mutter. 1975 war ich drei Jahre alt und hatte überhaupt keine Ahnung, was „deutsch“ ist, was ein Pass ist, was eine Staatsangehörigkeit ist. Aber ich erkannte die unglaubliche Erleichterung meiner Mutter.

          Das basiert natürlich auch auf rassistischen Überlegungen. Diesen Frauen wurde ja gesagt: Wenn ihr diese Männer heiratet, gehen die Ehen sowieso in die Brüche, und danach nehmen diese Männer eure Kinder mit in ihre Heimatländer, und ihr werdet eure Kinder nie wiedersehen. 

          Deshalb war es für meine Mutter und die anderen Frauen, die in einem richtigen politischen Kampf – teilweise auch aus falschen politischen Motivationen – dafür gekämpft haben, eine riesige Erleichterung, endlich ein Anrecht auf ihre Kinder zu haben.

          Gleichzeitig bin ich aber auch der Ansicht, dass wir zumindest die Medien-Sprache in unseren politischen Kämpfen häufig überschätzen. Ich bin in den letzten Jahren ständig nach Sprachpolitik gefragt worden und ich finde es wichtig. Aber es ist tatsächlich nicht die allerallererste Priorität. Sobald sich politische Begebenheiten verändern, verändert sich meist auch Sprache automatisch.

          Aber es gibt zum Beispiel solche Fälle wie die DDR, wo es viel mehr Gleichberechtigung gab und wo die Frauen viel mehr Rechte hatten als die Frauen im Westen. Trotzdem war es so, dass nach der Wiedervereinigung die Feministinnen aus dem Osten kamen und sagten: „Ich bin Ingenieur“, und dann sagten die Westfeministinnen: „Du genderst nicht – das ist nicht feministisch. Du musst sagen: ‚Ich bin Sekretärin.‘“

          Daran sieht man natürlich, dass Sprache auch nicht alles ist. Aber Sprachpolitik ist eben auch kein Kulturkampf und nicht „woke“ oder verrückt, sondern ein Teil dessen, dass wir Dinge richtig benennen und zeigen wollen, wie Menschen durch Benennungen ihr Platz im sozialen Gefüge zugewiesen wird.

          Ihr letztes Buch Antichristie kam 2024 heraus. Darin geht es auch um Vinayak Damodar Savarkar, der als ideologischer Begründer des Hindu-Nationalismus gilt und dessen Ziehkinder heute Indien regieren.
          Ist Hindu-Nationalismus der verzweifelte Versuch westlich gebildeter Inder:innen, aus ihrer Zerrissenheit zwischen westlichem Humanismus und Aufklärung auf der einen und indischer Tradition auf der anderen Seite einen Sinn zu konstruieren, indem man das westliche Konzept der „Nation“ imitiert und ein „Indischsein“ erfindet?

          Ich habe ein wahnsinniges Problem mit Ethnonationalismus, und deshalb wollte ich mich auch mit Savarkar auseinandersetzen – und mit den Wurzeln des Hindu-Nationalismus. Also: Wie ist es überhaupt dazu gekommen?

          Der Hindu-Nationalismus ist natürlich eine Reaktion auf den Kolonialismus gewesen. Hindutva ist die Theorie, die Savarkar zwar nicht erfunden hat, deren Gesicht er aber sozusagen geworden ist. Auch das Wort Hindutva geht nicht auf ihn zurück, aber es ist untrennbar mit ihm verbunden, weil er das Buch „Hindutva: Who Is a Hindu?“ geschrieben hat, das als „Bibel“ des Hindu-Nationalismus gilt.

          Es ging für ihn sowohl darum, zu definieren, wer Hindus überhaupt sind, als auch um Widerstand – in erster Linie gegen die britischen Kolonialherren, in zweiter Linie, in seiner historischen Form, gegen Muslime. 

          Die meisten antikolonialen Bewegungen haben sich als Nationalismen verstanden, weil sie gegen Nationalstaaten gekämpft haben und sich somit auch erst einmal selbst als Nationen definieren mussten, um sagen zu können: Wir sind auch eine Nation, deshalb verdienen wir einen eigenen Staat, und dieser eigene Staat soll ebenfalls ein Nationalstaat werden.

            Deshalb war ich sehr beeindruckt von Leuten wie Rabindranath Tagore, die gesagt haben: Halt! Nationalismus und Nationen sind bereits ein Irrweg, und wenn wir Nation konsequent zu Ende denken, ist in der Nation schon der Genozid inbegriffen. Es gibt ein wunderbares Zitat von Tagore, der sinngemäß gesagt hat, dass es in seiner Sprache kein Wort für „Nation“ gibt (Anm. d. Red.: „We have no word for Nation in our language. When we borrow this word from other people, it never fits us.“ – Rabindranath Tagore). Und das ist auch das politische Konzept, mit dem ich arbeiten möchte.

            Aber ich habe beim Schreiben meines Buches sehr viel mehr darüber verstanden, wie der Hindu-Nationalismus einfach aus konkreten Reaktionen auf konkrete politische Bedingungen hervorgegangen ist. Und dann kam noch ganz viel Trauma und so weiter dazu, woraus dann ein sehr toxischer Cocktail entstanden ist.

            Erschreckenderweise sind das, was die Modi-Regierung unter Hindutva versteht, und das, was Savarkar unter Hindutva verstand, sehr unterschiedliche Konzepte. Da hat man sich auch hier wieder die besonders dysfunktionalen, ausschließenden und schrecklichen Aspekte herausgepickt. Dass Savarkar zum Beispiel massiv gegen das Kastensystem war, wird ignoriert. Dass Savarkar Atheist war – atheistischer Hindu, aber Atheist –, wird ignoriert. Dass Savarkar für Mischehen zwischen Hindus und Muslimen war, wird ignoriert.

            Wenn ich mir Savarkar anschaue, dann schwingt da ganz viel Bewunderung für Muslime mit. Sein Hindutva ist eher entstanden, weil er eigentlich wollte, dass die Hindus so werden wie die Muslime. Er wollte Muslime auch nicht vernichten, sondern eigentlich wollte er sie „verschlingen“ – also durch Heirat zu Hindus machen. Das ist natürlich in seinem Totalitarismus ganz entsetzlich, und es ist auch faschistisch, aber eben nicht in derselben Form faschistisch, wie es gegenwärtig in Indien umgesetzt wird.

            Welche Ideen haben Sie für Ihr nächstes Buch?

            Ich habe tatsächlich gerade mit meinem Lektor gesprochen. Ich hatte ihm das Exposé für mein nächstes Buch geschickt und ich freue mich schon darauf, da ins Schreiben zu gehen. Das Buch wird ebenfalls die Erfahrung, Eltern zu haben, die aus einem anderen Land, respektive aus einem andren Element kommen, beinhalten. Die Mutter einer meiner Hauptfiguren ist ertrunken und sie ist sich sicher, ihre Mutter sei ein Selkie, ein Sagenwesen aus der keltischen Mythologie. Das sind Robben, die an Land gehen können, dort zu Menschen werden und dann wieder ins Wasser zurück gehen, um wieder zu Robben zu werden. In diesen Selkie Mythen verlassen immer irgendwann die Mütter die Familie und gehen zurück ins Meer. Und die Hauptfigur ist sich sicher, dass ihre Mutter so ein Selkie ist, was eine Form der Auseinandersetzung damit ist, dass sie das Leben ihrer Mutter an vielen Stellen nicht verstehen kann, weil sie es nicht geteilt hat, weil die Mutter verstorben ist und weil die Mutter aus einem anderen Land kam.

            Das ist der eine Strang. Im andren Strang geht es um die Frage, was dürfen wir sammeln? Was dürfen wir in unseren Museen ausstellen? Was ist mit „unquiet objects“, also Dingen, die wir nicht sammeln dürfen und die dann ein geisterhaftes Eigenleben entwickeln? Was ist mit den ganzen Sagen und Märchen, die wir sammeln, aber die wir so sehr – sozusagen –„nationalistisch“ sammeln? Also „die deutschen Märchen“, die ja viel hybrider sind und sich aus viel mehr geografischen Herkünften speisen. Was ist mit den Geschichten, die wir uns über uns erzählen?

            Und es geht um den Teufelspakt oder die Teufelspakte: Wie können wir schreiben, wenn es Dinge gibt, über die wir nicht sprechen dürfen aber wenn wir drüber sprechen, nicht drüber schreiben dürfen.

            Wir sind gespannt! Vielen Dank für Ihre Zeit und dieses Gespräch.

            Hier geht’s zur Rezension von Mithu Sanyals aktuellem Roman „Antichristie“


            Kristian Joshi
            Kristian Joshi
            Kristian Joshi ist Mitbegründer von theinder.net und zeichnet nach einigen Jahren Pause nun wieder für den visuellen Auftritt des Projektes verantwortlich. Nach langjähriger Tätigkeit in Design- und Werbeagenturen in Berlin und Hamburg ist er heute als freiberuflicher Art- und Kreativdirektor aktiv.

            Aktuell im Trend

            Zuletzt kommentiert

            - Anzeige -
            WP Twitter Auto Publish Powered By : XYZScripts.com