
Am 6. Februar 2025 veröffentlichte die Journalistin Erika Burri in der Neuen Zürcher Zeitung einen Kommentar über die außenpolitische Strategie Indiens. Sie analysiert, wie es dem Land gelinge, sich zwischen den geopolitischen Blöcken USA, Russland und China zu bewegen, ohne sich eindeutig auf eine Seite zu schlagen. Burri beschreibt Indien als einen Akteur, der wirtschaftliche und politische Eigeninteressen über moralische Erwägungen stellt – und damit erfolgreich ist.
Indien hat nach dem russischen Angriff auf die Ukraine seine Rohölimporte aus Russland drastisch erhöht. Vor 2022 spielte russisches Öl für Indien kaum eine Rolle, doch seitdem kaufe das Land große Mengen, raffiniere sie und exportiere Treibstoff nach Europa. Damit unterlaufe Indien die westlichen Sanktionen, während der Westen paradoxerweise von den stabilen Benzin- und Dieselpreisen profitiere, so Burri. Gleichzeitig halte Indien enge Beziehungen zu den USA aufrecht, die Neu-Delhi als Gegengewicht zu China in der Region betrachteten.
In der Tat macht die geopolitische Lage diese Strategie zu einem Balanceakt: Indien habe zwar mit China territoriale Spannungen, bleibe aber wirtschaftlich mit Peking verflochten. Es beziehe nach wie vor Waffen aus Russland und halte an dieser jahrzehntelangen militärischen Partnerschaft fest. Dennoch würde Indien weder von den USA noch von Europa für sein Verhalten kritisiert. Im Gegenteil: Washington werbe um eine engere Partnerschaft mit Indien, um Chinas Einfluss einzudämmen. Burri beschreibt dies als eine „strategische Autonomie“, die in Wahrheit eine geschickte Ausnutzung geopolitischer Abhängigkeiten darstelle.
Im folgenden könnte eine Diskussion folgender Gedanken von Interesse sein:
Pragmatismus siegt über Moral
Was Indien hier betreibt, ist nichts weniger als ein Lehrstück in Realpolitik. Während Europa und die USA mit moralischen Narrativen arbeiten und Sanktionen verhängen, setzt Indien auf knallharte Interessenpolitik. Es nutzt russisches Öl für den eigenen wirtschaftlichen Vorteil, versorgt gleichzeitig den Westen mit Kraftstoff und bleibt militärisch ein verlässlicher Partner Russlands.
Indien zeigt eindrucksvoll, dass Staaten nicht aus moralischen Gründen handeln, sondern aus wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Zwängen. Die westlichen Sanktionen gegen Russland sind letztlich eine politische Inszenierung, solange Indien – und über Indien auch Europa – russisches Öl weiterverwertet. In Neu-Delhi entscheidet kein moralischer Imperativ, sondern eine nüchterne Kosten-Nutzen-Rechnung. Und die Rechnung geht auf: Indien bekommt günstige Energie, verdient an der Raffinierung und stärkt seine wirtschaftliche Position.
Der Westen in der Falle der eigenen Doppelmoral
Dabei zeigt sich eine bezeichnende Doppelmoral: Während Länder wie der Iran oder Venezuela für vergleichbare Verstöße gegen westliche Sanktionen scharf bestraft werden, bleibt Indien unbehelligt. Der Grund ist offensichtlich: Die USA und Europa können es sich schlicht nicht leisten, Indien zu sanktionieren oder gar zu isolieren.
Indien wird gebraucht – als Absatzmarkt, als geostrategischer Gegenspieler Chinas und als stabilisierender Faktor in einer sich wandelnden Weltordnung. Die USA, die Indien als Schlüsselakteur im Indo-Pazifik positionieren, nehmen daher auch Widersprüche in Kauf. Sie kritisieren Indien nicht, weil es gegen Russland gerichtete Sanktionen untergräbt. Sie übersehen auch, dass Indiens politische Entwicklung unter Narendra Modi zunehmend autoritäre Züge annimmt. Und sie akzeptieren, dass Indien einerseits China als Rivalen betrachtet, andererseits aber wirtschaftlich mit Peking verflochten bleibt.
Indien als Gewinner der multipolaren Welt
Indien hat es geschafft, sich in einer von Spannungen geprägten Welt eine Position der Unangreifbarkeit zu sichern. Während andere Staaten entweder im Schatten der USA stehen oder von China abhängig sind, bleibt Indien eigenständig. Es manövriert zwischen den Blöcken, ohne sich festzulegen – und gewinnt dabei auf allen Ebenen:
- Es nutzt russisches Öl für den eigenen wirtschaftlichen Vorteil und versorgt gleichzeitig den Westen mit raffiniertem Treibstoff.
- Es hält die Beziehungen zu Russland stabil, um weiterhin Waffen zu beziehen und eine historische Partnerschaft nicht zu gefährden.
- Es nähert sich China an, um wirtschaftliche Vorteile zu sichern, ohne jedoch seine sicherheitspolitische Allianz mit den USA zu gefährden.
- Es stärkt seine Partnerschaft mit Washington, weil es weiß, dass es in der amerikanischen Strategie zur Eindämmung Chinas eine Schlüsselrolle spielt.
- Diese Strategie ist kein Zufall, sondern das Ergebnis einer jahrzehntelangen außenpolitischen Tradition, die sich nicht von Ideologie oder moralischen Prinzipien leiten lässt, sondern von nüchternem Kalkül. Indien handelt nicht aus Sympathie für Russland oder aus Loyalität zu China, sondern aus purem Eigeninteresse.
Die Illusion westlicher Einflussnahme
Die Frage ist nicht, ob diese Strategie funktioniert, sie tut es längst! Die eigentliche Frage ist, wann der Westen aufhört, sich selbst in seinem moralischen Anspruch zu täuschen und beginnt, die Welt so zu sehen, wie sie ist: ein Schauplatz von Macht, Interessen und Opportunismus. Indien hat längst verstanden, dass in einer multipolaren Welt keine absolute Loyalität erforderlich ist. Es kann gleichzeitig mit den USA, Russland und China Geschäfte machen, solange es seinen eigenen Vorteil wahrt.
Während der Westen noch in Kategorien von „Freund“ und „Feind“ denkt, hat Indien die Realität der globalen Politik erkannt: Es gibt nur Partner auf Zeit, Interessenbündnisse und flexible Allianzen. Und wer dieses Spiel am besten beherrscht, setzt sich langfristig durch. Indien gehört zweifellos zu den Gewinnern dieser neuen Weltordnung – nicht trotz seiner pragmatischen Politik, sondern genau wegen ihr.
Weiterführender Link: Indiens meisterhafte Aussenpolitik zwischen Russland, China, USA
Foto: (c) Sudhamsu Hebbar