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Professorin Shikha Dhiman (*1993 in Delhi) leitet eine Forschungsgruppe an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und gilt als aufstrebender Stern in der supramolekularen Chemie an der Schnittstelle zur Biologie. In diesem Interview erzählt sie, wie die Eleganz molekularer Selbstorganisation und ihr Bestreben, lebensechte Prozesse nachzuahmen, ihre wissenschaftliche Leidenschaft antreiben. Von der Erforschung der Phasentrennung in synthetischen Materialien bis hin zur Förderung inklusiver Forschung über kulturelle Grenzen hinweg reflektiert Dhiman über ihren Weg von Delhi nach Deutschland – über die Niederlande, wo sie 2015 tätig wurde. Sie berichtet von ihren Erfahrungen in unterschiedlichen wissenschaftlichen Systemen, kultureller Integration und dem Aufbau eines kollaborativen, neugiergetriebenen Labors, das Moleküle und Leben miteinander verbinden möchte.
In Ihrer Forschung konzentrieren Sie sich auf supramolekulare Chemie an der Schnittstelle zu biologischen Systemen. Was fasziniert Sie so sehr an diesem Feld?
Was mich an der supramolekularen Chemie reizt, ist ihre Eleganz – wie komplexes Verhalten aus vergleichsweise einfachen molekularen Wechselwirkungen entstehen kann. Die Arbeit an der Schnittstelle zur Biologie verleiht dem Ganzen einen zusätzlichen Sinn: Wir bauen nicht nur schöne Strukturen, wir versuchen auch, lebensechtes Verhalten nachzuahmen oder sogar zu beeinflussen.
Woran forschen Sie ganz aktuell?
Derzeit beschäftigt sich mein Labor damit, wie Flüssig-Flüssig-Phasentrennung zur Organisation biomolekularer Systeme beiträgt. Wir erforschen, wie sich diese Art der Kompartimentierung in synthetischen Materialien nachbilden lässt – etwa für Anwendungen in künstlichen Zellen, bei der kontrollierten Wirkstofffreisetzung oder in stimuli-responsiven Therapeutika. So entwickeln wir zum Beispiel Materialien, die Medikamente gezielt dann freisetzen, wenn krankheitsspezifische Signale sie aktivieren.
Das Faszinierende an diesem Forschungsfeld ist seine Unvorhersehbarkeit – es überrascht uns immer wieder, und genau diese Überraschungen halten meine Begeisterung für die Wissenschaft lebendig. Im Kern sehe ich mich als Architektin – von Molekülen, von Ideen und von Gemeinschaften.
Ihr akademischer Weg – von Delhi nach Bangalore und dann nach Europa – hat Sie durch verschiedene Länder und Kulturen geführt. Welche Wendepunkte waren besonders prägend für Ihre wissenschaftliche Identität?
Der erste Wendepunkt war der Beginn meiner Promotion am JNCASR in Bangalore. Dort entdeckte ich die supramolekulare Chemie und lernte – unter exzellenter Betreuung – streng, kritisch und zugleich selbstständig zu denken.
Der zweite prägende Abschnitt begann während meiner Postdoc-Zeit an der TU Eindhoven. Diese Erfahrung hat meinen wissenschaftlichen Horizont enorm erweitert – ich erkannte, wie interdisziplinär und kooperativ Forschung sein kann. Die offene Wissenschaftskultur dort ermutigte mich, neue Ansätze zu verfolgen, etwa die Verbindung von Phasentrennung und Materialdesign, und führte zu einigen meiner ersten unabhängigen Kooperationen. Diese Jahre halfen mir entscheidend dabei, meine eigene wissenschaftliche Identität zu formen – genau das, wonach Sie eingangs gefragt hatten.
Der Umzug von Indien nach Deutschland über die Niederlande brachte sicher Herausforderungen, aber auch Chancen mit sich. Was war für Sie am schwierigsten – und am lohnendsten – beim Übergang in das europäische Wissenschaftssystem?
In Indien fühlen sich Forschungslabore oft wie eng verbundene Familien an. In Europa hingegen liegt der Fokus von Anfang an stark auf Eigenständigkeit – das ist befreiend, kann anfangs aber auch einsam sein. Man kommt ohne das vertraute Unterstützungsnetzwerk an, und die Sprachbarriere macht den Start nicht immer leicht. Doch genau diese Selbstständigkeit hat sich im Rückblick als besonders wertvoll und bereichernd erwiesen.
Warum?
Ich hatte die Freiheit, eigene Ideen zu verfolgen, Fehler zu machen und dadurch zu einer selbstbewussteren und gefestigteren Forscherin heranzuwachsen. Der Zugang zu internationalen Kooperationen war für mich eine prägende Erfahrung – er hat meinen Blick erweitert und mir geholfen, einen strategischeren, global vernetzten Forschungsansatz zu entwickeln, der bis heute die Ausrichtung meines Labors bestimmt.
Sprache und Integration sind oft entscheidend, um sich in einem neuen Land einzuleben. Welche Rolle spielte Sprache für Sie und wie haben Sie sich kulturell in Deutschland integriert?
Sprache war für mich sowohl eine Brücke als auch eine Barriere. Im wissenschaftlichen Kontext, wo Englisch die gemeinsame Sprache ist, verlief der Forschungsalltag meist reibungslos. Außerhalb des Labors spielt Sprache jedoch eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, sich wirklich verbunden und zuhause zu fühlen.
Schon in Indien hatten viele Kolleginnen und Kollegen im Labor eine gemeinsame Regionalsprache. Ein ähnliches Muster habe ich in den Niederlanden und nun in Deutschland beobachtet – Menschen finden oft über ihre Muttersprache zueinander. Ich bemühe mich bewusst, Deutsch zu lernen – nicht perfekt, aber so, dass ich den Alltag gut bewältigen und meine Wertschätzung für die lokale Kultur zeigen kann.
Die meisten meiner Freunde sind international, und ich habe gelernt, dass Integration über mehr als nur Sprache funktioniert. Es geht darum, neugierig, respektvoll und offen gegenüber neuen Normen zu sein. Die deutsche Bürokratie empfinde ich manchmal als ermüdend, zuweilen aber auch als charmant absurd. Gleichzeitig bewundere ich, wie ernsthaft hier auf eine gute Work-Life-Balance geachtet wird – etwas, das ich mittlerweile sehr zu schätzen gelernt habe.
Als Leiterin einer internationalen Forschungsgruppe: Wie schaffen Sie ein inklusives und kollaboratives Umfeld über Kulturen und Disziplinen hinweg?
Ich bin überzeugt, dass Wissenschaft dann am besten gedeiht, wenn Menschen sich sicher, gehört und wertgeschätzt fühlen. In meiner Arbeitsgruppe legen wir großen Wert auf gemeinsame Werte wie Neugier, Integrität und Respekt. Ich bemühe mich, mit Empathie und Offenheit zu führen, ehrliche Diskussionen zu fördern und unterschiedliche Perspektiven bewusst wertzuschätzen.
Unsere Forschung verbindet Chemie und Biologie – daher ist interdisziplinäres Denken unerlässlich. Ebenso wichtig ist kulturelle Offenheit: die Bereitschaft, voneinander zu lernen und Vielfalt als Stärke zu begreifen. Nach meiner Erfahrung entstehen die besten Kooperationen dann, wenn Wissenschaft aus echter Neugier heraus betrieben wird – nicht bloß aus Karriereambitionen.
Stimmt. Sie haben sowohl im indischen als auch im deutschen Wissenschaftssystem gearbeitet. Wie würden Sie beide Systeme in Bezug auf Struktur, Erwartungen und Chancen für junge Forschende vergleichen?
Beide Systeme haben ihre eigenen Stärken. In Indien verfügen Studierende oft über eine solide theoretische Grundlage und eine ausgeprägte Motivation. In Deutschland hingegen erhalten Nachwuchsforschende schon früh viel Eigenständigkeit, und die Forschungsinfrastruktur ist hervorragend.
Ich erlebe den deutschen Ansatz oft als strukturierter und stärker karriereorientiert, während mir in Indien häufiger eine leidenschaftlichere, intrinsisch motivierte Denkweise begegnet ist. Allerdings holt Indien rasch auf – mit zunehmender Förderung interdisziplinären und eigenständigen Denkens.
Was ich mir wünschen würde, ist ein besser strukturierter Austausch: dass junge Forschende Zeit in beiden Systemen verbringen. Eine solche „Cross-Pollination“ könnte das wissenschaftliche Denken auf beiden Seiten nachhaltig bereichern.
Blicken wir nach vorne: Wie sehen Sie die Zukunft der supramolekularen Chemie?
Ich sehe die supramolekulare Chemie als Schlüsseldisziplin für Bereiche wie synthetische Biologie, Soft Robotics und personalisierte Medizin. Wir entwickeln uns weg von der Gestaltung statischer Strukturen hin zu dynamischen, anpassungsfähigen Systemen, die mit ihrer Umgebung interagieren – ähnlich wie lebende Organismen.
Größer gedacht: was möchten Sie mit Ihrer Forschung erreichen?
Mein Ziel ist es, Materialien zu entwickeln, die auf ihre Umgebung reagieren und sich – ähnlich wie lebende Systeme – in einem dynamischen Gleichgewicht befinden. Diese Materialien sollen biologische Prozesse wie die Aufteilung in verschiedene Zellbereiche und die Weitergabe von Signalen nachahmen. Letztlich möchte ich mit meiner Arbeit dazu beitragen, die Verbindung zwischen einfachen Molekülen und lebendem Leben besser zu verstehen. Die Entwicklung echter künstlicher Zellen wäre ein bahnbrechender Fortschritt – und ich hoffe, dass unsere Forschung einen Beitrag dazu leisten kann, diesen Traum zu verwirklichen.
Wir sind gespannt auf Ihre neuen Erkenntnisse.
Link: Dhiman Lab