Sie ist furchtlos, unbändig und schwarz wie die Nacht: Kali, die Göttin der Zerstörung, erschüttert seit Jahrhunderten die Vorstellungen von Weiblichkeit. In ihr vereinen sich Zorn und Mitgefühl, Tod und Wiedergeburt. Heute, da alte Rollenbilder bröckeln und neue Selbstbilder entstehen, wirkt ihre Gestalt wie ein Spiegel – unbequem, archaisch und doch von erstaunlicher Gegenwärtigkeit. Ein Essay über Wut, Wandel und die Kraft des Weiblichen.

Als Kind betrachtete ich Kali oft im Haus meiner Großmutter in Indien. Im Vergleich zu den anderen Göttinnen schien sie keine Heilige zu sein. Sie trug keine Krone, sondern Totenköpfe. Sie lächelte nicht sanft, sie schrie, streckte mir ihre Zunge entgegen. Ich war verstört: sie tanzte auf dem Leichnam Shivas – ihres Geliebten – und verkörperte damit ein Paradoxon, das unsere Zeit womöglich besser versteht als frühere. „Zerstörung und Erneuerung sind oft dasselbe. Ohne etwas zu zerstören kann manchmal nichts Neues entstehen“, erklärte mir meine Großmutter.
Kali ist kein Symbol der Gewalt, sondern der Überschreitung von Grenzen. Sie zerreißt das, was versteinert ist – Machtverhältnisse, Dogmen, Angst. In ihrem wilden Antlitz steckt die Ahnung, dass es ohne Zorn keine Veränderung gibt. Der oft gelesene Satz „Kali, the avenging goddess in every woman“ ist deshalb weniger eine religiöse Beschwörung als eine existenzielle Wahrheit: In jeder Frau wohnt jene Kraft, die sich erhebt, wenn Schweigen nicht mehr möglich ist.
Diese Energie, die sich nicht an Moral oder Konvention bindet, findet heute neue Ausdrucksformen. In den Stimmen von Frauen, die sich gegen Gewalt wehren. In Aktivistinnen, die über Tabus sprechen. In Künstlerinnen, die sich weigern, sich an Schönheitsideale zu ketten. Sie alle tragen ein Stück Kali in sich – nicht als Rachegöttin, sondern als Hüterin der Selbstachtung.
Kali gehört niemandem. Weder einer Religion noch einer Nation. Ihre Macht lässt sich nicht politisch vereinnahmen, weil sie aus einem tieferen Ort stammt – aus jenem inneren Ich, das sich nicht länger beugen will. Sie erinnert uns vielleicht daran, dass Wut nicht das Gegenteil von Frieden ist, sondern dessen Voraussetzung.
Und vielleicht ist das der Grund, warum Kali heute wieder in unser Bewusstsein tritt. Nicht als mythologische Gestalt, sondern als Symbol für die Notwendigkeit, sich zu verwandeln. Für den Mut, das Alte hinter sich zu lassen, um neu beginnen zu können – in der Gesellschaft, in Beziehungen, in uns selbst. Vielleicht steht Kali auch für Freiheit. Die Freiheit aufzuhören, sich zu erklären.








