(von Sujal Ghosh) In Anbetracht des Terroranschlages auf das Indische Parlament im vergangenen Jahr, blicken wir auch dieses Jahr auf eine verwundete Demokratie, die besonders unter Gewalt und Katastrophen zu leiden hat, und dennoch Schritte nach vorne wagt.
Ein Jahr, in dem wir oft vergeblich auf erfreuliche Nachrichten zu hoffen trauen, und trotzdem erschüttert und beschämt sind auf ein modernes Industrieland, das uns wieder gezeigt hat, wie unterentwickelt es immer noch ist.
Ein Beinahe-Krieg mit dem Nachbarn und grausame Ausschreitungen zwischen Hindus und Moslems (beschönigend auch kommunale Gewalt genannt) hat das Land fast zerrissen. Terroranschläge auf Unschuldige die Demokratie noch weiter geschwächt.
Wohl einige der grausamsten Ausschreitungen zwischen Hindus und Moslems in der postkolonialen Geschichte verkörpern jene Tage im Frühjahr 2002. Bei Zusammenstößen zwischen Hindus und Moslems waren durch Rachezüge im ganzen Staat mehr als 1000 Menschen, meist Moslems, getötet worden. Mehr als 100 000 verloren ihr Zuhause. Die Gewalt galt als Reaktion auf einen Zuganschlag, als in einem Bahnhof ein muslimischer Mob einen Waggon voller Hindu-Aktivisten in Brand setzte.
Daraufhin zogen hinduistische Banden plündernd und brandschatzend durch die größte Stadt des Staates, Ahmedabad. Moslemische Armenviertel wurden bevorzugt in Brand gesteckt. Führer nationalistischer Hindu-Organisationen ließen in Eigenregie Straßensperren errichten und Autos durchsuchen, um die „möglichen“ muslimischen Terroristen zu fassen. Feuerwehrfahrzeuge wurden daran gehindert, brennendes muslimisches Eigentum zu löschen.
Der kürzlich wiedergewählte Chefminister von Gujarat Narendra Modi, BJP, stand besonders in der Kritik, hatte er angeblich wissentlich bei der Ausübung seiner Autorität sich zurückgehalten, und es versäumt die zahlreichen Opfer auf moslemischer Seite während den Ausschreitungen zu schützen. Bewusst hätte er die Truppen zur Zurückhaltung gemahnt und so den brutalen Exzessen freien Lauf gelassen.
Und trotz radikaler Aussagen im Wahlkampf der Hindutva-Philosophie folgend, dem Vorwurf ausgesetzt er würde die moslemische Bevölkerung abgrenzen, und trotz der Ereignisse im Frühjahr, konnte Modi einen Erdrutschsieg für die Bharatiya Janata Party bei den Landtagswahlen im Dezember verbuchen.
Muslimische Extremisten hatten im September den Akshardhaam Tempel in Gujarats Hauptstadt Gandhinagar besetzt und ein Blutbad angerichtet. Am späten Nachmittag drangen bewaffneten Extremisten in das Tempelgelände ein und verschafften sich gewaltvollen Zugang zum Tempelgebäude. Die Angreifer warfen Handgranaten und feuerten wahllos auf Hunderte anwesende Gläubige, welche sich in das Tempelinnere zu retten versuchten. Anschließend verschanzten sich die Extremisten im Tempel und hielten diesen circa zwölf Stunden besetzt.
Erst der Zugriff einer Anti-Terror-Einheit aus Delhi konnte am frühen Morgen den Schrecken beenden. Ein Elitekämpfer und beide Extremisten wurden getötet. Insgesamt sollen dem extremistischen Angriff mehr als 30 Menschen zum Opfer gefallen, sowie über 100 verletzt worden sein.
Im indischen Krisenstaat Jammu und Kaschmir wurde der neue Chefminister, Mufti Mohammed Sayeed, vereidigt. Der 66jährige Kaschmiri übernimmt das Amt für die Hälfte der sechsjährigen Legislaturperiode um nach drei Jahren die Amtsgeschäfte an den Koalitionspartner der Kongreßpartei zu übergeben. Die Wahlen in Kaschmir im Oktober wurden von heftiger Gewalt begleitet. Separatisten boykottierten die Landtagswahlen und versuchten mit Gewaltakten, die Wähler einzuschüchtern. Dennoch gelten die Wahlen nach Auffassung unabhängiger Beobachter als die bisher fairsten Wahlen im indischen Teil Kaschmirs.
Als eindeutige Gewinner gingen die von Sayeed neu gegründete Demokratische Volkspartei (PDP) und der indische Nationalkongress (INC) hervor. Gemeinsam mit unabhängigen Kandidaten verfügen sie über eine knappe Mehrheit und lösen damit die, seit der Unabhängigkeit Indiens, ungebrochene Herrschaft der Partei der Nationalen Konferenz (NC) in Kaschmir ab.
Jahr für Jahr verunglücken zahlreiche Züge auf dem größten Schienennetz der Welt. Beim schwersten Zugunglück 2002 ist ein Expresszug in Bihar auf einer 85 Jahre alten Brücke entgleist und hat bis zu 120 Menschen in den Tod gerissen. Von den etwa 500 Insassen wurden 350 lebend geborgen, 182 Menschen jedoch mit schweren Verletzungen.
Der „Hauptstadt-Express“ (Rajdhani) war auf dem Weg von Kalkutta nach Delhi, als das Unglück geschah. Die Lokomotive und die ersten drei Waggons passierten die Brücke, dann aber entgleisten 15 Waggons, fielen fünf Meter in die Tiefe in das Bett des Flusses Dhavi.
Nach wochenlangen schweren Spannungen mit Indien hatte der pakistanische Präsident Pervez Musharraf noch im Januar eine Geste der Versöhnung an das Nachbarland gerichtet. Auf dem SAARC-Gipfel in der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu sagte Musharraf: „Ich würde das Forum gern nutzen, (Indiens) Ministerpräsident (Atal Behari) Vajpayee die Hand zu echter und aufrichtiger Freundschaft zu reichen.“ Indiens Regierungschef begrüßte den Schritt. Allerdings müssten den Worten auch Taten folgen. Beide gaben sich nach Musharrafs Rede die Hand. Leider prägten diese Bilder nicht die Beziehungen zwischen den verfeindeten Nachbarstaaten im Jahr 2002.
Lange sollte es nicht dauern, bis eine Million Soldaten sich an der Grenze im Himalaya gegenüberstanden und auf die Order ihres jeweiligen Oberbefehlshabers warteten anzugreifen. Sicherlich ist es ein jährliches Ereignis im Frühjahr, den Terroranschlägen durch Freischärler folgend, daß auch das Säbelrasseln zwischen den Regierungen beginnt. Diesmal aber sollte es schlimmer kommen. Nach pakistanischen Raketentests und beidseitigem Truppenaufmarsch an der Waffenstillstandslinie, schloss die Welt ihre Botschaften umgehend und forderten ihre Staatangehörige auf umgehend Indien und Pakistan zu verlassen. Am Rande eines Krieges sich befindend schloss auch Pakistan im Falle der konventionellen Niederlage den Einsatz von Atomwaffen nicht aus. Indien beharrte auf umgehende Kontrolle der pakistanischen Seite der Grenze, um die von Pakistan unterstützte Infiltration muslimischer Extremisten nach Indien zu verhindern.
Professor Avul Pakir Jainulabdeen Abdul Kalam wurde am 11. Juli zum 11. Präsidenten der Republik vereidigt. Mit einer überwältigen Mehrheit gewann er das 9fache der Stimmen seiner kommunistischen Gegenkandidatin Lakshmi Sahgal, 87. Sahgal war die erste weibliche Kandidatin für dieses Amt. Auf Vorschlag des Premiers Vajpayee wurde Kalam aufgestellt und konnte auch die Mehrheit der Opposition hinter sich bringen.
Der ehemalige Top-Wissenschaftler gilt als Vater des indischen Raketenprogramms, und war vor allem an den Atomtests 1998 aus wissenschaftlicher Seite involviert.
Kalam ist der dritte muslimische Präsident in der Geschichte Indiens, und der erste ohne politischen Hintergrund. Der 70-jährige Tamile, der mit dem Bharat Ratna (höchste zivile Auszeichnung) geehrt wurde, löst damit seinen Vorgänger K.R. Narayanan ab.
Der Präsident ist Staatsoberhaupt und Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Er wird von einem Wahlgremium gewählt, das aus den Mitgliedern beider Häuser des Parlaments, Rajya Sabha (=Bundesrat) und Lok Sabha (=Bundestag), und Vertretern der Legislative der einzelnen Staaten (Landtage) besteht. Der Präsident hat eine Amtszeit von 5 Jahren und kann wiedergewählt werden.
Die Arbeit des Präsidenten beschränkt sich jedoch zum größten Teil auf repräsentative Pflichten. Er übt normalerweise keine Verfassungsmacht aus eigener Kraft aus. Diese liegt in den Händen des Kabinetts unter Vorsitz des Premierministers, der dem vom Volk gewählten Parlament gegenüber verantwortlich ist. Ein System, das dem deutschen ähnelt.
Hoffen wir, daß unter diesem neuen Staatsoberhaupt, trotz nur repräsentativer Funktionen, das Land 2003 weniger von Unruhen, Katastrophen und Kriegen heimgesucht wird, damit die wahre Entwicklung und Leistung der größten Demokratie zu Vorschein kommt.