
Mit seinem neuen Buch legt der renommierte Indologe Patrick Olivelle eine umfassende Studie über eine der schillerndsten Gestalten der indischen Antike vor: Kaiser Ashoka, der von 302 bis 233 v. Chr. regierte und das größte Reich auf dem Subkontinent vor Ankunft der Briten beherrschte. Der ebenso bekannte Indologe Axel Michaels übersetzte das Buch vom Englischen ins Deutsche.
Olivelle konzentriert sich in seiner Darstellung auf die zuverlässigsten Quellen, die uns von Ashoka geblieben sind: die Edikte, die der Herrscher in Stein meißeln ließ. Über dreißig Inschriften, verfasst in einem schlichten, aber eindringlichen Stil, vermitteln Einblick in Ashokas Selbstverständnis und in seine Vorstellung von Herrschaft. Diese Inschriften – vollständig oder in Auszügen wiedergegeben und von Olivelle kommentiert – bilden das Rückgrat des Buches. Sie erlauben es dem Autor, Ashokas Denken unmittelbar zu rekonstruieren, ohne den Umweg über spätere Mythen und Legenden.
Besonders eindrucksvoll zeichnet Olivelle den Wendepunkt in Ashokas Leben nach: die Eroberung von Kalinga. Das Blutvergießen dieser Schlacht erschütterte den Kaiser so sehr, dass er sich von der kriegerischen Expansionspolitik abwandte. Fortan stellte er das Konzept des Dharma ins Zentrum seiner Herrschaft – verstanden nicht als religiöse Doktrin, sondern als universaler ethischer Kodex. Dharma sollte die Grundlage für das Zusammenleben in einem multikulturellen Reich bilden und zugleich den Rahmen für friedliche Beziehungen zu anderen Staaten bieten.
Das Buch überzeugt sowohl durch seine wissenschaftliche Präzision als auch durch seine Zugänglichkeit. Olivelle erläutert die Edikte mit großer philologischer Genauigkeit, ohne die Lesbarkeit zu verlieren. Axel Michaels’ Übersetzung ins Deutsche trägt wesentlich dazu bei, dass auch ein breiteres Publikum Zugang zu dieser Materie erhält.
Spannend ist zudem, dass Olivelle Ashoka nicht in den Dienst moderner Ideologien stellt. In Indien wird der Kaiser bis heute von verschiedenen Strömungen vereinnahmt – als Einiger des Landes, als buddhistischer Herrscher oder als Symbol der Toleranz. Olivelle gelingt es jedoch, Ashoka auf der Basis seiner eigenen Worte zu zeigen: widersprüchlich, faszinierend und von erstaunlicher Modernität.
Patrick Olivelle hat ein Buch vorgelegt, das sowohl für historisch Interessierte als auch für Leserinnen und Leser mit einem Blick auf Gegenwartsfragen lohnend ist. „Ashoka. Indiens philosophischer Kaiser“ ist eine fundierte, detailreiche und zugleich gut lesbare Biografie, die einem Herrscher gewidmet ist, dessen Fragen nach Macht und Moral bis heute aktuell bleiben. Eine klare Empfehlung für alle, die sich für Indien, Geschichte und Philosophie interessieren.
Patrick Olivelle: Ashoka. Indiens philosophischer Kaiser
Aus dem Englischen von Axel Michaels.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2025. 450 Seiten, 34 Euro