
Wenn deutsche Autorinnen und Autoren über Indien schreiben, bleibt bisweilen Skepsis angebracht. Allzu oft wird das Land aus einer Außenperspektive betrachtet, mit Halbwissen vermischt oder auf wenige stereotype Themen reduziert. Umso bemerkenswerter ist der Versuch von Christopher Kloeble, in einem aktuellen Artikel seine persönlichen Erfahrungen zwischen Berlin und Neu-Delhi in Beziehung zu setzen. Kloeble lebt seit über zehn Jahren zwischen beiden Städten – privat wie beruflich – und beschreibt, wie dieser Alltag seine Sicht auf beide Orte verändert hat.
Der Text setzt nicht auf exotische Beschreibungen oder kulturelle Vergleiche im üblichen Sinn. Stattdessen schildert Kloeble, wie sein anfängliches Wissen über Indien – geprägt durch das deutsche Bildungssystem – lückenhaft war. Erst durch seine indische Partnerin und das gemeinsame Leben in Delhi wurde ihm bewusst, wie wenig über die komplexe Geschichte und Gegenwart Indiens bekannt ist. Er nennt Beispiele, die aus deutscher Sicht trivial erscheinen mögen, aber symptomatisch für die allgemeine Unkenntnis sind – etwa die Annahme, dass Indira Gandhi mit Mahatma Gandhi verwandt sei oder dass Indien über Jahrhunderte kolonisiert gewesen sei, obwohl die britische Herrschaft erst ab 1857 formell institutionalisiert wurde.
Kloeble beschreibt Delhi als Stadt mit Brüchen – historisch, sozial und urbanistisch. Die Auswirkungen der Teilung 1947, die Struktur der Stadt zwischen Alt- und Neu-Delhi, die Entstehung paralleler Stadtgebiete wie Noida oder Gurugram – all das stellt er als Teil einer komplexen urbanen Dynamik dar. Positiv fällt auf, dass er koloniale Kontinuitäten nicht nur benennt, sondern auch mit gesellschaftlichen Phänomenen wie der Bedeutung von Englisch oder Hautfarbe in Verbindung bringt.
Auch Berlin betrachtet Kloeble nicht idealisiert. Er spricht offen über die Herausforderungen, mit denen Menschen aus nicht-europäischen Herkunftsländern in Deutschland konfrontiert sind – etwa durch wiederkehrende stereotype Fragen oder ein begrenztes Interesse an tatsächlichem Wissen über andere Kulturen. Während er in Delhi selten nach seiner Herkunft gefragt werde, falle seine Frau in Berlin regelmäßig auf – nicht selten begleitet von klischeehaften Vorstellungen über Indien.
Trotz der Offenheit bleibt der Text stellenweise an der Oberfläche. Delhi wird im Wesentlichen durch Kloebles Perspektive vermittelt – die Stimmen von Menschen vor Ort fehlen fast vollständig. Auch die Unterschiede in den Lebensrealitäten werden nicht thematisiert: Die Möglichkeit, freiwillig zwischen zwei Städten zu pendeln, ist eine Ausnahme und kein allgemein übertragbares Modell. Diese strukturellen Unterschiede bleiben weitgehend unberührt.
Nichtsdestotrotz bietet der Artikel einen lesenswerten, reflektierten Zugang zum Leben zwischen zwei sehr unterschiedlichen Metropolen. Er verzichtet auf kulturvergleichende Pauschalurteile und ist um Differenzierung bemüht. Die eigene Rolle wird ansatzweise hinterfragt, der Ton ist persönlich, aber nicht belehrend. Letztlich lädt der Text dazu ein, sich intensiver mit Fragen von Migration, Zugehörigkeit und Perspektiven auseinanderzusetzen – auch über die beiden genannten Städte hinaus.
Nachzulesen ist der Artikel hier:
Berlin ist nicht mehr das, was es einmal war – aber wer will das schon?