
(ts) Als im Sommer 2021 in Tamil Nadu zwei junge Frauen innerhalb von zwei Tagen unter verdächtigen Umständen sterben, erschüttert das ganz Indien. Beide waren frisch verheiratet, beide sahen sich mit massiven Erwartungen konfrontiert – und beide standen unter Druck wegen Mitgiftforderungen. Die Tragödien machen deutlich, was Menschenrechtsorganisationen seit Jahren anprangern: Trotz gesetzlicher Verbote bleibt die sogenannte Dowry – die Zahlung von Geld, Schmuck oder Sachwerten durch die Familie der Braut an die Familie des Bräutigams – eine gesellschaftliche Realität in Südasien, die jährlich tausende Frauen das Leben kostet.
In Indien wurde die Mitgift bereits 1961 gesetzlich verboten, Pakistan folgte 1976, Bangladesch 1980. Doch auch über 40 Jahre später bleibt das System erstaunlich stabil. Was einst als freiwillige Gabe der Eltern an ihre Tochter gedacht war, hat sich in vielen Gesellschaftsschichten in ein forderndes, erpresserisches Konstrukt verwandelt – verbunden mit Gewalt, Demütigung und in vielen Fällen Tod. In Indien werden laut Regierungsstatistiken jedes Jahr rund 8.000 sogenannte „Dowry deaths“ registriert, die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. In Pakistan liegt die Zahl offiziell bei etwa 2.000 pro Jahr. In Bangladesch schwanken die Schätzungen, aber auch hier zeigt sich eine erschreckende Kontinuität von Gewalt im Namen einer veralteten Tradition.
Gesetze allein scheinen das Problem nicht zu lösen. Zwar existieren juristische Rahmenbedingungen und Strafbestimmungen, doch in der Praxis werden nur wenige Täter verurteilt. Viele Frauen trauen sich nicht, die Missstände zu melden, aus Angst vor familiärer Ächtung oder aus ökonomischer Abhängigkeit. Oft wird die Gewalt als „häuslicher Streit“ abgetan. Gleichzeitig bleibt der gesellschaftliche Erwartungsdruck enorm: Familien, die sich weigern, hohe Mitgiften zu zahlen, riskieren, dass ihre Töchter nicht verheiratet werden – oder nach der Hochzeit unter Druck gesetzt, beschimpft oder misshandelt werden.
Die Mitgift wird vielerorts noch immer als „Pflicht“ der Brautfamilie angesehen, als Preis für eine „gute Partie“. Die Spirale beginnt oft schon lange vor der Hochzeit: Forderungen nach Möbeln, Elektronik, Autos, Immobilien oder Bargeld werden entweder offen ausgesprochen oder unterschwellig kommuniziert. Steigt der Bräutigam sozial oder beruflich auf, erhöhen sich die Erwartungen. Kann die Brautfamilie nicht mithalten, wird die junge Frau zum Opfer einer Logik, in der sie nicht als Mensch, sondern als „Wertgegenstand“ betrachtet wird. Im schlimmsten Fall endet das in körperlicher Gewalt, Verbrennungen oder erzwungenem Suizid.
Zivilgesellschaftliche Initiativen und Aktivistinnen kämpfen seit Jahren gegen diese Praxis, doch der Weg ist mühsam. Es braucht nicht nur Gesetze, sondern auch Bildung, ökonomische Unabhängigkeit für Frauen und einen tiefgreifenden kulturellen Wandel. Solange gesellschaftlich akzeptiert wird, dass eine Frau nur mit „Mitgift“ einen Ehemann „wert“ ist, bleiben rechtliche Schritte bloße Theorie. Es geht um nicht weniger als die Würde und das Leben tausender Frauen in Südasien, deren Schicksale viel zu oft ungehört bleiben.
Der Tod einer jungen Braut wegen unbezahlter Mitgift ist keine Familientragödie – er ist ein gesellschaftliches Verbrechen. Die Geschichten aus Tamil Nadu sind nur zwei von vielen. Und solange sich an der Haltung gegenüber der Mitgift nichts ändert, werden es nicht die letzten gewesen sein.
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Quellen:
- The Juggernaut – “South Asia Banned Dowries. Why Are Brides Still Paying?”
https://www.thejuggernaut.com/dowry-deaths-india-pakistan-bangladesh-south-asian-weddings (Hinweis: Artikel hinter einer Paywall) - National Crime Records Bureau (Indien)
Jahresbericht „Crime in India“, Kapitel zu Crime Against Women (z. B. § 304B IPC – Dowry Deaths): https://ncrb.gov.in/en/crime-india - UN Women – Asia and the Pacific
Informationen zu Gender-basierter Gewalt und rechtlicher Lage in Südasien: https://asiapacific.unwomen.org - Interviews mit Aktivist:innen und Soziolog:innen
Kein direkter Link – Inhalte basieren auf öffentlich dokumentierten Interviews und Fachbeiträgen, z. B. mit Indira Jaising (Menschenrechtsanwältin): https://www.livelaw.in, Dr. Rukhsana Ahmed (University at Albany): https://www.albany.edu/communication/faculty/rukhsana-ahmed - Recherchen zur Gesetzeslage in Südasien
Überblick zur Mitgiftgesetzgebung: Indien: Dowry Prohibition Act (1961): https://indiacode.nic.in; Pakistan: Dowry and Bridal Gifts (Restriction) Act (1976): https://pakistancode.gov.pk; Bangladesch: Dowry Prohibition Act (1980): https://bdlaws.minlaw.gov.bd