
Urmila Goels „Das Indernet. Eine rassismuskritische Internet-Ethnografie“ untersucht eine deutschsprachige Onlineplattform, die im Jahr 2000 von jungen Männern mit indischen Wurzeln in Deutschland gegründet wurde. Über viele Jahre hinweg diente diese Plattform als zentraler Ort des Austauschs für Menschen mit Bezügen zu Indien – insbesondere für eine Generation, die in Deutschland aufgewachsen ist, sich aber nicht selbstverständlich als Teil einer dominanten Mehrheitsgesellschaft positionieren konnte oder wollte.
Goel analysiert das „Indernet“ als Raum sozialer Zugehörigkeit und Identitätsverhandlung. Die Plattform wird nicht namentlich benannt – doch die Beschreibung lässt kaum Zweifel zu: Es handelt sich um theinder.net. Goel begründet die Anonymisierung mit dem Anspruch, die Plattform nicht zu bewerten, sondern sie analytisch als Fallbeispiel für digitale Zugehörigkeitskonstruktionen zu verstehen. Diese forschungsstrategische Entscheidung gibt ihr Spielraum für theoretische Vertiefung, entzieht der Studie aber zugleich Kontexte, die zur Einordnung hilfreich gewesen wären – etwa zur Außenwirkung oder zur medialen Geschichte des Projekts.
Die Autorin wählt für ihre Analyse drei sogenannte „Mosaike“: Sie untersucht die Plattform zunächst als Ort kollektiver Selbstverortung, dann als technisch-kommunikative Struktur und schließlich in ihrer zeitlichen Entwicklung bis hin zur Integration in soziale Netzwerke. Grundlage der Untersuchung sind u. a. Interviews mit den Redaktionsmitgliedern – allerdings wurden diese bereits im Jahr 2004 geführt. Das wirft Fragen auf: Zwar wird das Portal auch in seiner späteren Entwicklung beobachtet, doch es fehlen systematische Verlaufszeitpunkte, um Veränderungen im Nutzerverhalten, der Selbstverständigung oder inhaltlichen Ausrichtung wirklich nachvollziehen zu können. Besonders in Hinblick auf den Wandel digitaler Kommunikation in den letzten zwei Jahrzehnten wirkt die Analyse damit in Teilen historisch verankert, aber nicht durchgehend aktuell anschlussfähig.
Inhaltlich überzeugt das Buch durch seine Verortung in rassismuskritischer Forschung. Goel zeigt, dass digitale Räume keine neutralen Infrastrukturen sind, sondern Orte, an denen Machtverhältnisse, Selbstbilder und Fremdzuschreibungen ausgehandelt werden. Das „Indernet“ erscheint hier als ambivalenter Raum: Es ermöglicht Sichtbarkeit und Vernetzung – kann aber auch zur Reproduktion von Ausschlüssen beitragen. Wer gehört dazu? Wer darf mitreden? Und unter welchen Bedingungen wird kulturelle Zugehörigkeit angenommen oder infrage gestellt?
Stärken des Buches liegen in der Verbindung aus empirischer Detailarbeit und theoretischer Reflexion. Weniger stark ist die Einbindung der Nutzer*innenstimmen im Zeitverlauf sowie die eher distanzierte Betrachtung der Gründer selbst, deren Perspektiven auf die Plattformentwicklung, auf Konflikte oder Veränderungen in der Community sicher bereichernd gewesen wären. Dies räumt Goel allerdings auch selbst ein.
Dennoch bleibt Das Indernet ein zentrales Werk zur Analyse digitaler Öffentlichkeiten in der postmigrantischen Gesellschaft. Es bietet eine tiefgehende Auseinandersetzung mit einem Stück Internetgeschichte, das weit über eine einzelne Community hinausreicht. Besonders im Jubiläumsjahr 2020 der Plattform ist das Buch ein wertvoller Impuls, um über Kontinuitäten, Leerstellen und neue Herausforderungen digitaler Selbstrepräsentation nachzudenken.
Dies führt mich zu der Frage, was sich für die Gegenwart aus den Erkenntissen ableiten lässt – vielleicht wie folgt?
- Digitale Räume bleiben umkämpfte Orte der Zugehörigkeit
Die Mechanismen von Inklusion und Exklusion, die Goel beschreibt, zeigen sich auch heute – etwa in Kommentarspalten, Algorithmuslogiken oder in der Frage, wessen Narrative Plattformen bestimmen. - Die Bedeutung migrantischer Selbstrepräsentation ist ungebrochen
Das Bedürfnis, sich selbst sichtbar zu machen – jenseits der dominanten Medienöffentlichkeit –, ist weiterhin aktuell. Soziale Medien bieten neue Räume, aber auch neue Herausforderungen. - Plattformen veralten – Communities aber nicht
Die konkrete Plattform mag sich verändern oder verschwinden, aber die Gemeinschaften dahinter suchen weiterhin nach Austausch – heute auf WhatsApp, TikTok, X, Snapchat oder anderen transnationalen Netzwerken. - Forschung muss langfristig denken – und trotzdem gegenwartsfähig sein
Der Fall Goels zeigt: Langzeitbeobachtungen sind wertvoll, aber sie müssen durch wiederholte Aktualisierungen ergänzt werden, um Entwicklungen und Brüche sichtbar zu machen. - Intersektionale Perspektiven fehlen weiterhin oft im Mainstream
Die Vielfalt diasporischer Lebensrealitäten findet in großen Teilen der Öffentlichkeit bis heute wenig differenzierte Aufmerksamkeit. Das Indernet erinnert daran, wie wichtig es ist, diese Komplexität sichtbar zu machen.
Über zwanzig Jahre nach Gründung der Plattform lädt Urmila Goels Analyse dazu ein, nicht nur die Geschichte einer digitalen Community zu verstehen, sondern auch die andauernde Relevanz von Fragen nach Zugehörigkeit, Sichtbarkeit und Teilhabe in einer postmigrantischen, digitalen Gesellschaft neu zu verhandeln.
Zur Open-Access-Version des Buches:
Das Indernet – Urmila Goel (OAPEN)