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Fr., 21. November, 2025
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StartLeben & KulturLiteratur & Medien"Zeit der Schuld" von Deepti Kapoor

„Zeit der Schuld“ von Deepti Kapoor

Deepti Kapoor eröffnet ihren Roman mit einem Bild, das sich dem Gedächtnis einprägt: In einer nächtlichen Schneise des Verkehrs verschwinden fünf schlafende Menschen unter den Rädern eines Wagens, dessen Insassen in dieser kurzen Sekunde über Leben und Tod entscheiden – oder eben nicht. Dieser brutale Auftakt ist weniger dramaturgischer Effekt als vielmehr ein Grundton, der das gesamte Buch durchzieht: Die Gewalt, die Indien umgibt, ist nicht punktuell, sie ist strukturell. Sie ist das Geräusch im Hintergrund des Alltags.

Aus dieser Perspektive entwickelt Kapoor drei Lebenswege, die einander berühren, sich gegenseitig verstärken und schließlich zerstören. Da ist Ajay, der aus einem Dorf im Norden stammt und dem die Welt zunächst nichts schenkt außer Härte. Sein früher Verkauf an ein kinderloses Paar macht ihn zum Arbeitskörper, nicht zum Kind; erst später, als er in einem Café beschäftigt wird, öffnet sich ihm ein Spalt zum Leben jenseits des reinen Überlebens. Kapoor zeichnet ihn ohne Pathos, als jemanden, der die Welt aufmerksam betrachtet und deren Regeln besser versteht als jene, die sie geschaffen haben.

In dieses Café tritt Sunny Wadia, Sohn einer Dynastie, die ihre Macht nicht aus Tradition, sondern aus Einfluss, Geld und Gewalt bezieht. Er ist der Gegenpart zu Ajay – nicht weil er sein Gegenteil wäre, sondern weil beide einander auf fatale Weise ergänzen. Sunny bewegt sich in einer Welt, die ihm alle Türen öffnet, ohne dass er weiß, wie man hindurchgeht. Sein Reichtum ist Last und Privileg zugleich, und Kapoor führt ihn als Figur ein, die sich ständig vor dem Blick des eigenen Vaters rechtfertigen muss.

Zwischen die beiden tritt Neda Kapur, Journalistin, ausgebildet, urban, mit dem festen Glauben an ihre eigene Urteilskraft. Doch es ist gerade ihre Sensibilität, die sie anfällig macht für die Faszination eines Mannes, der alles verkörpert, was sie zu durchschauen glaubt. Kapoor entwirft keine Liebesgeschichte, sondern eine Beziehungskonstellation, in der Bedürfnisse, Abhängigkeiten und blinde Flecken sich gegenseitig verstärken.

Erzählerisch setzt die Autorin auf einen rhythmischen Wechsel: Rückblenden, Vorgriffe, Einsprengsel aus der Vergangenheit, die in ruhiger Konsequenz auf den zentralen Unfall zurückführen. Diese Konstruktion wirkt nicht wie ein literarischer Kunstgriff, sondern wie ein notwendiges Mittel, um die vielschichtigen Verwerfungen eines Landes zu zeigen, das zwischen Tradition und Modernisierung feststeckt. Die Spannungen zwischen Kasten, Klassen und Generationen pulsieren durch jede Szene.

Kapoor arbeitet mit einer Bildsprache, die Delhi nicht verklärt, aber auch nicht denunziatorisch zeichnet. Die Stadt erscheint als Organismus, in dem sich Überfluss und Elend ununterbrochen berühren. Gerade diese räumliche Nähe macht die Konflikte sichtbar, die den Figuren kaum Auswege lassen. Niemand bleibt unbefleckt; jeder trägt an seiner Weise zur Tragödie bei. Schuld ist hier kein juristischer Begriff, sondern ein atmosphärischer.

Was das Buch so beeindruckend macht, ist die Konsequenz, mit der Kapoor psychologische Intimität und gesellschaftliche Analyse verbindet. Die Gewalt der Strukturen schreibt sich in die Körper und Entscheidungen der Figuren ein, ohne dass diese sich je vollständig darüber im Klaren wären. Kapoor urteilt nicht über sie – sie zeigt, wie sie zu dem werden, was sie sind.

Zeit der Schuld ist ein Roman, der seine Leserinnen und Leser nicht mit der Wucht des Plots, sondern mit der Präzision seiner Beobachtung packt. Deepti Kapoor entfaltet ein Panorama, das zugleich politisch und zutiefst menschlich ist. Ihre Figuren bewegen sich in einem Netz aus Macht, Herkunft und Begehren – und man verfolgt ihren Weg mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Verständnis. Ein Werk, das lange nachhallt, weil es die Frage stellt, die im Titel bereits anklingt: Wo beginnt Schuld – und endet sie überhaupt?

Das Buch „Zeit der Schuld“ (Originaltitel: Age of Vice) von Autorin Deepti Kapoor erschien in der deutschen Ausgabe beim Kein & Aber Verlag am 1. März 2023 und umfasst in der Hardcover-Version 608 Seiten.

Tina Singh
Tina Singh
Tina schrieb ihren ersten Artikel für theinder.net bereits 2005 und interessiert sich für gesellschaftliche Themen, Musik und Reisen. Heute ist sie im Touristikbereich tätig.

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