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Fr., 20. Juni, 2025
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Tagore – verkannt und vergessen?

In diesem Essay erklärt Dr. Shantanu Mukherjee (Frankfurt am Main), warum Robindronath Thakur (Rabindranath Tagore) eine Jahrhundertfigur in der Geschichte Bengalens ist.

Thakur entstammte einer wohlhabenden und aristokratischen Familie und wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Kalkutta geboren – kurz nach dem Aufstand einheimischer Soldaten in der britischen Armee, der mit brutaler Härte auf beiden Seiten niedergeschlagen wurde. In dessen Folge übernahm Königin Victoria offiziell die Kontrolle über Britisch-Indien, da man die Herrschaft nicht länger indirekt durch die Ostindien-Kompanie ausüben wollte.

Thakurs Schulbildung war nur von kurzer Dauer. In jungen Jahren wurde er nach England geschickt, kehrte zurück, verliebte sich – wie es scheint – in die attraktive Ehefrau eines seiner Brüder, die seine Gefühle offenbar erwiderte. Er heiratete früh, was – so wird vermutet – seine Schwägerin in den Suizid trieb. Sechzig Jahre später soll er auf dem Sterbebett den Wunsch geäußert haben, ein Foto seiner ersten Liebe zu sehen. Vergeblich – keines hatte die Zeit überdauert. Ich hoffe, die beiden haben sich im Jenseits wiedergefunden – auch wenn das mit der Gefahr verbunden ist, dass intime Wiederbegegnungen die himmlische Ruhe stören könnten.

Thakur schrieb unermüdlich – ohne Rast und scheinbar ohne Erschöpfung – und widmete sich allen Gattungen der Literatur. Anfang des 20. Jahrhunderts gelang ihm der internationale Durchbruch mit der englischen Übersetzung eines schmalen Gedichtbandes. Yeats, Pound und andere zeigten sich begeistert – wohl auch, weil sie selbst eine tiefe Sehnsucht nach Mystik in sich trugen, deren Erfüllung sie in Thakurs Dichtung zu finden glaubten. Thakur reiste nach Europa, traf die kulturelle Elite und wurde bald ein gefeierter Gast. Sogar der freundliche alte Mann, der in meinem ersten Studentenwohnheim in Heidelberg für die Heizung zuständig war, erkundigte sich neugierig nach Thakur, als er erfuhr, dass ich Bengale bin.

Den Höhepunkt seines Ruhms markierte der Literaturnobelpreis im Jahr 1913. Doch der Ruhm verflüchtigte sich ebenso schnell. Yeats, inzwischen offenbar desillusioniert, kommentierte später, Thakurs Sprache sei mittelmäßig, seine eigenen Übersetzungen schal – was nicht ganz unberechtigt war – und überhaupt sei die englische Ausdruckskraft der Inder mangelhaft.

Der Titel dieses Essays will andeuten: Tagore sollte viel bekannter sein. Doch warum ist er es nicht? Ein Nobelpreis allein macht noch keine Größe aus – nicht einmal in Regionen, wo seine Sprache, das Bangla, Muttersprache ist; und schon gar nicht darüber hinaus. Werfen Sie einen Blick auf die Literaturnobelpreisträger der letzten sechzig Jahre: Wie viele können Sie nennen? Von wie vielen haben Sie auch nur eine Zeile gelesen? Ich selbst würde kläglich scheitern.

Größe entsteht nicht durch Listen. Es gibt keine Normen dafür. Man erkennt sie, wenn man ihr begegnet – wie beim Anblick Maradonas auf dem Fußballfeld. Sie braucht keine Definition. Sie ergreift uns bis ins Innerste.

Ein Merkmal von Größe ist ihre Seltenheit. Sie ist nicht beliebig vermehrbar. Denken wir an die Schöpfer des Mahabharata, der Ilias, des Alten Testaments, an Dante, an den Shakespeare von Lear und Macbeth, an den Eliot der Lyrik. Natürlich wird Ihre Liste nicht ganz mit meiner übereinstimmen – aber in die gleiche Richtung wird sie wohl zeigen. Und Thakur? Er gehört eigentlich zu dieser großen Reise – aber er ist nicht dabei. Warum?

  1. Bengalens Bedeutungslosigkeit

    Bengalen spielt politisch wie wirtschaftlich seit Langem keine bedeutende Rolle in der Weltpolitik – und das hat Einfluss. Der bengalische Essayist Buddhodeb Bosu bemerkte frustriert, dass in amerikanischen Universitäten in den 1960er Jahren Unmengen an Studien über Jewtuschenko erschienen – während kaum jemand je von Thakur gehört hatte. Verständlich: Der Kalte Krieg tobte (genauer gesagt: Er war der eigentliche Zweite Weltkrieg. Der sogenannte „Zweite“ war in Wahrheit der Erste, und der „Erste“ ein europäischer Bürgerkrieg der Nationen). Heute ist Jewtuschenko weitgehend vergessen – trotz seiner Verdienste um die Aufdeckung der Verbrechen des sowjetischen Regimes an den Juden. Ich vermute, mittlerweile wird eine Phalanx chinesischer Schriftsteller in den USA hofiert.
  2. Mangelhafte Übersetzungen

    Übersetzungen sind das Tor zu internationalem und dauerhaftem Ruhm – doch Thakur hatte in dieser Hinsicht wenig Glück. Er hätte besser davon abgesehen, seine Gedichte selbst ins Englische zu übertragen. Ich gestehe: Mein Urteil ist subjektiv – entscheiden Sie selbst.
  3. Kein überragendes Hauptwerk

    Thakur hat kein literarisches Werk hinterlassen, das als überragendes „Opus Magnum“ gelten könnte. Und solche Werke braucht es, um als wirklich großer Schriftsteller zu gelten. Wäre Shakespeare bei Komödie der Irrungen oder Die lustigen Weiber von Windsor stehengeblieben, würde er heute kaum als Weltliterat gelten. Aber er schuf eben auch seinen Macbeth. Thakurs Shyama ist für mich ein Werk von erhabener, zeitloser Schönheit – doch es ist ein Musikdrama, zum Hören gedacht. Ähnlich wie Macbeth, doch dort überwältigt uns die Sprache, hier die Musik.

Auch Thakurs Romane erreichen dieses Niveau nicht ganz. Gora ist fast groß – aber redet sich zu Tode. Wäre eine sorgfältige Auswahl seiner besten Kurzgeschichten in hervorragender Übersetzung erschienen, wäre dieser Punkt hinfällig.

  1. Lieder statt Literatur

    Thakur schrieb etwa 2.000 Lieder – viele von ihnen ruhig, majestätisch, fast himmlisch. Oft ist die Lyrik stärker als die Melodie. Doch genau das ist das Problem: In der westlichen Musik ist der Ton entscheidend, nicht das Wort. Bei Thakur ist es oft umgekehrt. Das ist legitim – aber Worte sind an ihre Sprache gebunden. Und damit ist ihr Zugang für Außenstehende begrenzt.
  2. Der Irrtum der Mystik

    Thakurs Aufstieg und Fall im Westen war ein großes Missverständnis. Dieses diffuse, spirituell angehauchte Suchen nach Gott, Mensch oder beidem – all das ist nicht zwingend ein Kennzeichen großer Dichtung. Denken wir an Mallarmé, der einem jungen Mann, der über große Ideen, aber fehlende Lyrik klagte, antwortete: Große Poesie wird nicht aus Ideen gemacht, sondern aus Worten. Und genau deshalb ist große Poesie oft nicht übersetzbar.
  3. Zu viel von allem

    Thakur gönnte sich nie eine Pause. Weniger wäre mehr gewesen – gerade weil sich in der Flut an Texten so viele funkelnde Edelsteine verbergen. Doch viele seiner Essays, Dramen und Romane sind trotz ihrer Tiefe ermüdend. Eine klug zusammengestellte Auswahl seiner besten Gedichte und Kurzprosa – möglichst kompakt – könnte seinen Ruf im Westen wiederbeleben.
  4. Blinder Personenkult

    Die ständige Huldigung und unkritische Kanonisierung seines Werks förderten keine reflektierte Auseinandersetzung mit ihm als Dichter.
  5. Das Fehlen des Bösen

    Was bei Thakur auffällt: Das Böse fehlt fast völlig. Ich bin mir nicht sicher, ob das ein echter Mangel ist – aber in den ganz großen Werken der Literaturgeschichte begegnet uns oft ein abgründiges, zerstörerisches Böses: Im Mahabharata, im Alten Testament, in Lady Macbeth. Selbst wenn die Ilias es nicht in dieser Form zeigt, offenbart sie die erbarmungslose Gewalt von Göttern und Menschen. Thakur hingegen bleibt – mit Ausnahme vielleicht einiger Zeichnungen – weit von der dantesken Dimension des Bösen entfernt.
  6. Unübersetzbarkeit

    Thakurs wahre Größe liegt in seiner Poesie – und die ist nahezu unübersetzbar. Große Dichtung entsteht nicht aus Gedanken, sondern aus Worten (siehe Punkt 5). Und Worte lassen sich selten in ihrer ganzen Tiefe übertragen. Besonders in seinen späten Jahren schrieb Thakur schlanke, leuchtende Gedichte, in einer Welt jenseits des Vergänglichen – doch diese Poesie verliert im Deutschen oder Englischen ihre Seele. Hier einige Beispiele meiner Übersetzungen (leider nur auf Deutsch). Das Original zählt zu den Juwelen der Weltliteratur – doch leidet unwiederbringlich im Übertrag:

(sudur kon nodir pare……)
An welch fernem Fluss,
bei welchem undurchdringlichen Wald,
in welch dunkler Tiefe
gehst du hinüber –
Lebensfreund, Gefährte, mein Ein und Alles.
Heute, in der Sturmnacht –
der Sturmnacht von Dir und mir.

(„ushar udoy somo onobogunthita, tumi okunthita..“)
„Unverschleiert, unverklemmt –
wie der Sonnenaufgang.“

(dekhi tumi noto shire bunicho poshom…..)
Ich sehe dich – den Kopf geneigt,
du strickst –
den Frieden der Schöpfung
in stiller Anerkennung.

(„dusshomoy“: jodio sondha…..)
Die Dämmerung naht, lautlos, ohne Rückkehr.
Der Gesang verstummt, alles wird plötzlich still.
Der Kosmos endlos, einsam, öde, leer.
Ein Echo von Erschöpfung durchdringt den Körper.
Unaussprechliche Angst, erwartungsvoll und stumm.
Der Horizont lichtlos, schwarz verhüllt.
Doch du, Vogel – Lebensvogel –,
beende nicht schon jetzt deinen Flug.

(Aus dem Englischen übersetzt – Link zum Originalartikel)

Foto: (c) ÁWá~commonswiki – Wikimedia

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