Foto: (c) Shajan Kumar |
(kjo) Die Medien zeichnen ein verstörendes Bild von der indischen Gesellschaft – aus westlicher Sicht. Der geneigte Beobachter indischer Medien wird spätestens seit der Massenvergewaltigung einer Studentin in Delhi Ende letzten Jahres beobachtet haben, dass sich der verzweifelte Versuch, der Ursache für solche Verbrechen auf den Grund zu gehen mit der gebetsmühlenartigen Forderung nach immer drakonischeren Strafen abwechselt.
Doch man wird bei dem Ganzen auch das Gefühl nicht los, dass diese mediale Kommunikation zwar objektiv die erschütternde Realität im zweitbevölkerungsreichsten Land der Welt dokumentiert, dies aber mit einem westlich-intellektuellen Ansatz geschieht, der mit der Realität in den Köpfen der meisten Inder nichts zu tun hat.
Es ist wohl eher so, dass diese Artikel ein verzweifelter Versuch sind, ein nicht existierendes Problembewusstsein zu dokumentieren, eine öffentliche Debatte vorzutäuschen, die so nicht geführt wird.
Und das im Grunde nur, um den eigenen westlich orientierten Eliten das Gefühl zu geben, sie lebten in einer Gesellschaft, in der öffentliche Debatten geführt werden, eine Gesellschaft, in der Experten von Nachrichtensprechern zu Dingen befragt werden um kluge Antworten zu geben, in der Experten und Politiker zusammensitzen und in Talkshows über Dinge diskutieren – eine Gesellschaft, die sich empört, eine Gesellschaft, in der ein westlicher, differenzierter Umgang mit Problemen herrscht.
Bei der breiten Masse jedoch hat das Mediengewitter entweder Anteilnahmslosigkeit hervorgerufen oder Demonstranten auf die Straßen gescheucht, die stumpf abenteuerliche Strafen forderten oder Steine warfen. Worüber sie sich eigentlich empörten und wie vielen es dabei um die eigentliche Sache ging, ist fraglich.
Es mag diese differenzierte, nach unseren Maßstäben vernünftige Gesellschaft durchaus geben in Indien. Nur ist diese eine ganz andere, als die, in der die Massenvergewaltigungen und Ehrenmorde geschehen sind, um die es geht. Die ganze Empörung ist ein Phantasiekonstrukt. Eine Phantasiedebatte wird um ihrer selbst Willen geführt.
Die Wertschätzung für ein Menschenleben geht in Indien nicht über persönliche Sympathie hinaus.
Wenn der wohlhabende Geschäftsmann sich am Straßenrand einen Snack holt, überschneiden sich zwangsläufig seiner und der Kosmos des Straßenverkäufers. Mittelschichtsfamilien haben häufig Hausbedienstete. Man redet mit ihnen, man bezahlt sie – aber im Grunde sind sie einem egal.
Der Unterschied zum Westen ist nun, dass dem deutsche Mittelschichtsfamilienmensch seine Putzfrau und deren Probleme wahrscheinlich auch egal sind, er das aber nicht offen so leben würde, oder das offen so sagen würde. Denn im Westen kennt man eine moralisch implizierte Solidarität in der Gesellschaft, die ihre imperativsten Auswüchse im berüchtigten Gutmenschentum zeigt.
In Indien hingegen wird von niemandem erwartet, sich um seinen Mitmenschen zu kümmern oder sich für sie zu interessieren. Wenn jemand verreckend am Straßenrand liegt, wird die indische Moral von niemandem fordern, dass er anhalten und diesem Menschen helfen muss.
In der indische Moral – die es als solche eigentlich auch nicht gibt und die viel zu heterogen ist, um sie als solche zu bezeichnen – geht es vor allen Dingen um die Aufrechterhaltung der kosmischen Ordnung der Dinge, des Dharma.
Es ist jedem Teil der Gesellschaft, jeder Kaste und jeder Rolle, die ein Mensch in seinem Leben ausfüllt, ein Funktionsbereich zugeteilt. Dabei gibt es keine wirklichen Regeln sondern eher Hinweise, wie dieser so auszufüllen ist, dass die kosmische Ordnung nicht aus dem Gleichgewicht gerät.
Der Bettler, der am Straßenrand sein Dasein fristet, lebt in einem ganz anderen Kosmos als der Zeitungsverkäufer, der einige Meter weiter seine Zeitungen auf dem Gehweg ausgelegt hat. Ihre Wirkungsbereiche überschneiden sich nur unwesentlich, weshalb der eine keine Solidarität – oder Verantwortung – für den anderen verspüren muss.
Was daraus folgt, erscheint uns Menschen im Westen – es sei dahingestellt, wie geheuchelt oder ernstgemeint dabei unsere christliche und aufklärerische Moral auch ist – eine Egal-Gesellschaft zu sein.
Solang nicht seine Familie betroffen ist, solang es ihn und seine Familie in seinem Leben nicht einschränkt, schert sich der Inder nicht besonders um seine Mitmenschen.
Das wirkt ignorant und kalt, ist aber eigentlich nicht böse gemeint. Denn geht es einem Menschen schlecht, dann wird das als Konsequenz seines Handelns, seines Karmas gesehen. Sei es in diesem oder in einem vorigen Leben.
Und eben auch dieser Glaube an die Wiedergeburt nimmt den Dingen ihre moralische Angreifbarkeit oder Drastik.
Ein armer Mensch ist nicht arm, weil die Gesellschaft ungerecht ist, weil z.B. Reichtum falsch verteilt ist, weil sich der Staat nicht kümmert, sondern weil es seine Rolle im Weltgefüge ist. Hat er die Rolle gut ausgefüllt, sich in seiner Rolle „richtig“ betragen, wird er im nächsten Leben einen Aufstieg erfahren und als jemand wiedergeboren werden, der nicht mehr arm ist.
In dieser Hinsicht verliert auch der Tod seinen Schrecken. Es ist eine menschliche und natürliche Reaktion zu trauern und zu bedauern – logischerweise auch in Indien, wenn z.B. ein Verwandter, Guru oder Freund stirbt.
Wenn aber der Bettler am Straßenrand an Hunger zugrunde geht, dann könnte man das theoretisch sogar als eine Art Erlösung sehen.
In einem der großen indischen Epen, dem Mahabharata, muss der Pandava Prinz Arjun sogar in den Krieg gegen seine Verwandten, die Kaurava, ziehen. Als ihm das Unbehagen über den Umstand seine Vettern und Onkel töten zu sollen zweifeln lässt, erscheint ihm der Welterhalter Vishnu in Form des Gottes Krishna und überzeugt ihn davon, dass es notwendig ist, diesen Krieg zu führen, um Dharma aufrecht zu erhalten.
Und auch den zahlreichen blutrünstigen Dämonen im indischen Mythologie-Universum, die in heldenhaften Sagen einer um den anderen von tapferen Göttern zur Strecke gebracht werden, kann man in Indien im Grunde nicht böse sein, da sie ja nur ihre innerhalb des Dharmas zugewiesene Rolle erfüllen und in Form des eigenen Todes die tragische Konsequenz ihres Handelns zu spüren kriegen.
So ist es vielleicht nicht gutzuheißen, was sich in Indien seit Jahrhunderten abspielt. Und so soll auch nicht der Eindruck erweckt werden, die indische Philosophie kenne keine Nächstenliebe und kein Mitgefühl. So ist es aber vielleicht doch zu erklären, dass immer wieder ungerechte und grausige Dinge in Indien passieren, diese aber einen Großteil der Inder nicht tangieren und mit denen Indien und die Welt noch lange werden leben müssen.
Der gesunde Menschenverstand, von dem bei uns oft die Rede ist, und der sicher auch in einigen indischen Philosophieströmungen anzutreffen ist, wäre derweil ein Mittel, eine große Zahl von grundlegenden Problemen in der indischen Gesellschaft – oder besser gesagt in den indischen Gesellschaften – lösungsorientiert anzugehen. Und nicht nur dort.
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Frauenhass und Frauenverachtung hat nun überhaupt nichts mit "Karma" zu tun. Der ganze Artikel ist ein – vorsichtig gesagt – ziemlich trauriger Versuch, ein großes – nicht nur indisches – Problem kleinzureden. Ich glaube einfach nicht, dass die Debatte um den Femizid in der indischen Gesellschaft nur von Minderheiten geführt wird, die angeblich von den Medien hochgespielt werden. Wahrscheinlich hätte der Autor das gerne. Schade, Sie fallen mit Ihrer "Argumentation" ja noch hinter jeden aktuellen Bollywood-Film zurück (nichts gegen Bollywood-Filme!).
Nun ja, aber es geht doch grundsätzlich um die Frage, wie ernst es die indische Gesellschaft mit ihrer Betroffenheit und dem Willen meint, etwas an der Rolle der Frau ändern zu wollen. Die Medien in Indien sind in der Tat ein Problem und bisweilen kontraproduktiv.
i see